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Könnte eine Polioimpfung, wie hier im indischen Chennai, auch vor Viren wie Covid-19 schützen?

© R Gnanasasthaa/PTI/dpa

Update

Forschergruppe um HIV-Entdecker Robert Gallo: „Wir schlagen eine Polio-Impfung zum Schutz vor Covid-19 vor“

Einen Impfstoff gegen Covid-19 wird es nicht so schnell geben. Könnten andere Impfstoffe aus abgeschwächten Viren das Immunsystem gegen Sars-CoV-2 mobilisieren?

Einen Impfstoff gegen Covid-19 wird es wohl frühestens Anfang 2021 geben, schätzen viele Experten. Doch was tun bis dahin? Eine Möglichkeit wäre, andere Impfstoffe, die gegen Kinderlähmung oder andere Viruserkrankungen schützen, einzusetzen.

Ein gewisser Schutz - generell vor Viren

Denn offenbar aktivieren sie das Immunsystem und mobilisieren evolutiv uralte zelleigene Abwehrkräfte gegen Viren jeder Art - womöglich auch gegen Sars-CoV-2. Das erörtert eine Gruppe von Virologen um einen der Entdecker des Aids-Virus HIV, Robert Gallo, im Fachblatt “Science”.

Als in den 1950er Jahren der erste Impfstoff gegen die damals weit verbreitete Kinderlähmung entwickelt wurde, bemerkten Ärzte rasch: Die von Albert Sabin erfundene Orale Poliovirus Vakzine (OPV), die aus abgeschwächten, aber intakten Polioviren bestand, schützte nicht nur vor Kinderlähmung, bei den Geimpften waren auch seltener andere Viruserkrankungen festzustellen.

So konnte etwa 1959 ein Ausbruch des Poliovirus vom Typ 1 in Singapur mit Hilfe dieses Poliovirusimpfstoffs gestoppt werden, obwohl dieser nur Polioviren von Typ 2 enthielt. Weitere Studien in den 1960er und 1970ern mit über 60000 Geimpften ergaben, dass diese seltener an Influenza erkrankten als Nicht-Geimpfte - etwa 3,8fach seltener.

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Auch Genital-Herpes, ausgelöst von Herpes simplex Viren, heilte bei ihnen schneller ab. Sogar onkolytische, als Krebszellen zerstörende Wirkung wurde in einigen Studien mit den Impfungen in Verbindung gebracht.

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Bei daran anschließenden Tests mit bestimmten intakten Enterovirusstämmen, die den Menschen zwar infizieren, aber keine Erkrankung auslösen, beobachteten die Forscher einen gewissen Schutzeffekt vor Erkrankung an saisonaler Influenza und anderen akuten Atemwegserkrankungen.

In Bulgarien wiederum, schreiben der inzwischen 83-jährige Gallo und seine Kollegen, habe eine Massenimmunisierung mit OPV 1975 sogar einen Ausbruch einer von Enteroviren ausgelösten, der Kinderlähmung ähnlichen Erkrankung eindämmen können.

Einer 2019 veröffentlichten Studie zufolge konnte eine OPV-Impfkampagne in Guinea-Bissau in Westafrika die Kindersterblichkeit in der betreffenden Region um 32 Prozent reduzieren - wohlgemerkt in einer Zeit, in der Polioviren in Afrika als ausgerottet gelten. Um statistisch ein Leben zu retten, mussten zwischen 68 und 230 Kinder mit den Viren geimpft werden, schätzen die Forscher, die noch eine Reihe weiterer Beleg für den merkwürdigen Effekt schildern.

Und der scheint nicht auf Polioviren beschränkt zu sein, auch Impfstoffe bestehend aus anderen abgeschwächten Viren wie Masern, Windpocken und dem Bacillus Calmette-Guérin (BCG), der gegen Tuberkulose eingesetzt wird, scheinen die unspezifische Schutzwirkung zu vermitteln.

"Wir schlagen eine Polioimpfung zum Schutz vor Covid-19 vor"

Über die Ursachen wissen Immunologen allerdings noch wenig. Offenbar scheint der Botenstoff Interferon involviert zu sein, der in die Regulation des Immunsystems involviert ist. Im Fall von BCG zeigten Untersuchungen, dass der Impfstoff offenbar dafür sorgt, dass in den Immunzellen die Gene stärker aktiviert werden, die die Cytokinproduktion anregen - also jene Botenstoffe, die das Immunsystem zum Angriff gegen Eindringlinge stimulieren, etwa indem mehr Abwehrzellen verschiedenen Typs produziert werden.

"Die Dauer des nicht-spezifischen Schutzes, den die Lebendimpfstoffe induzieren, ist unbekannt", schreiben Gallo und Kollegen, "aber er konnte mehrere Monate bis Jahre lang beobachtet werden". BCG, verabreicht im Schuleintrittsalter bei Fünf- bis Sechsjährigen in Dänemark habe das Risiko, an natürlichen Ursachen zu sterben, um 42 Prozent reduziert bis zu einem Alter von 45 Jahren.

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Da Covid-19 verschiedenen Studien zufolge die natürlichen Abwehrkräfte der Zellen gegen Viren hemmen kann, könnte eine Stimulation dieser Abwehr durch Lebendimpfstoffe die Widerstandskraft womöglich erhöhen, meinen Gallo und Kollegen. "Wir schlagen den Einsatz von OPV vor, um Covid-19 zu lindern oder zu verhindern", schreiben sie. OPVs seien sicher, es stünden verschiedene Typen zur Verfügung, sie seien kostengünstig, leicht zu verabreichen und sie seien in ausreichender Menge vorhanden. Etwa eine Milliarde Dosen würden jährlich produziert und in 140 Ländern eingesetzt.

Tests mit BCG an medizinischem Personal seien bereits initiiert worden, aber das Mittel sei nicht in diesem Ausmaß vorhanden oder schnell genug produzierbar. Außerdem sei das Sicherheitsprofil von OPV besser als das von BCG, das bei etwa ein Prozent der Fälle zu nennenswerten Nebenwirkungen führe, während nur einer unter drei Millionen OPV-Geimpften mit Komplikationen rechnen müsse.

Mit einer Massenimpfung der Bevölkerung mit OPV, die einen gewissen, unspezifischen Schutz gegen Sars-CoV-2 vermittelt, könne auch das Risiko gesenkt werden, dass die jetzt eigens gegen Covid-19 entwickelten Impfstoffe keinen Schutz mehr bieten, wenn sie auf den Markt kommen, weil die Viren bis dahin mutiert sind, so wie saisonale Influenza-Viren.

In Deutschland wird seit 1998 kein OPV-Impfstoff mehr zur Polio-Impfung eingesetzt. Stattdessen wird auf die IPV-Vakzine zurückgegriffen, die aus inaktivierten Polioviren besteht - von der keine der beschriebenen unspezifischen Schutzwirkungen gegen andere Viren bekannt ist. Der IPV-Impfstoff wird von der Ständigen Impfkommission (StIKo) empfohlen, um die, wenn auch seltenen, Fälle nach einer OPV-Impfung zu vermeiden, bei denen sich die intakten Polioviren im Körper der Geimpften doch zu stark vermehren (circulating vaccine-derived polioviruses, cVDPV) und zu einer Polioerkrankung führen oder gar weiterverbreitet werden.

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