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Vollkommen zerstört. "Es gibt kein Mariupol mehr", sagt Andrii Portnov. Die Menschen stehen buchstäblich vor dem Nichts. 

© Alexander Ermochenko / REUTERS

Folgen des Ukraine-Krieges: „Es geht nicht um nationale Sturheit, sondern um die bloße Existenz“

Forscher aus der Ukraine und Deutschland diskutieren den Wandel der ukrainischen Gesellschaft durch den Krieg, Russlands Ziele und Versäumnisse der Wissenschaft.

Wie verändert der russische Angriffskrieg die ukrainische Gesellschaft? Welche Ziele motivieren die Entscheider in Russland? Und hat das konsternierte Staunen des Westens über die Invasion vom 24. Februar 2022 auch mit Versäumnissen der Wissenschaft zu tun? Solche und ähnliche Fragen diskutierten ukrainische und deutsche Expert:innen jetzt am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

„Seit Maidan-Zeiten höre ich, die ukrainische Gesellschaft sei gespalten – als wäre das eine Rechtfertigung für Putins gewaltsame Intervention“, sagte die Autorin Kateryna Mishchenko, derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg. Als würden pro-russische Kräfte im Land einen Angriffskrieg legitimieren. 

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Zudem stünden insbesondere jene Regionen unter Druck, in denen es früher viele Anhänger des russlandfreundlichen Präsidenten Wictor Janukowytsch gegeben habe. „Die, die früher Janukowytsch gewählt haben, werden heute deportiert und getötet, ihre Städte in Schutt und Asche gelegt.“ So werde es auf längere Zeit keine „russlandfreundlichen“ Ukrainer:innen mehr geben, meint Mishchenko.

Situative Zweisprachigkeit

Überhaupt sei der Begriff von den „russischsprachigen Regionen“ problematisch, erklärte Andrii Portnov, Professor für Entangled History an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. „Wir brauchen eine differenziertere Sprache, neue Kategorien, um die ukrainische Gesellschaft soziologisch richtig vermessen zu können.“ Es gebe eine weit verbreitete situative Zweisprachigkeit, so Portnov. 

Demnach wachsen weite Teile der Bevölkerung sowohl mit der ukrainischen als auch mit der russischen Sprache auf und nutzen beide jeweils dem Kontext entsprechend. „Die Frage, ob Menschen die russische Sprache aus politischen Gründen oder in spezifischen Alltagssituationen sprechen, lässt sich wissenschaftlich nicht beantworten.“

Gesellschaften seien immer irgendwo gespalten. So zeitige der Krieg in der ukrainischen Bevölkerung voraussichtlich neue Konfliktpotenziale. Schon jetzt zeige sich in den sozialen Medien eine emotionale Spannung zwischen Menschen, die geflohen, und solchen, die geblieben sind, sagte der ukrainische Historiker und Publizist.

Mishchenko erklärte indes, die Gräueltaten der Russen könnten eine militarisierte Gesellschaft befördern. „Weil die Menschen wissen, wie die russische Armee mit Zivilisten umgeht, gibt es einen großen Schutzbedarf und die Forderung nach Waffen in privatem Besitz.“ Die Debatte darüber sei schon im Gange.

Ansonsten gebe es den für pluralistische Gesellschaften üblichen sozio-politischen Dissens, meint die Publizistin. Ein Problem sei, dass es keine vernünftige politische Vertretung für alle gesellschaftlichen und politischen Gruppen gebe. Mishenko zufolge wurde etwa „die sozialistische oder sozialdemokratische Sprache“ seinerzeit vom Janukowytsch-Lager gekapert – wobei besagte Akteure mit Sozialismus und Sozialdemokratie nicht das Geringste am Hut hätten. Ihre entsprechende Rhetorik aber führe dazu, dass Gruppen, die sich im politischen Prozess gegen konservative oder neoliberale Positionen stemmen, oft verdächtigt werden, Wölfe im Schafspelz zu sein.

Hier brauche es, wenn der Krieg einmal vorbei sei, neue Formen der politischen Vertretung. Auch müsse man an einem inklusiven Modell der Zweisprachigkeit arbeiten, mit dem sich niemand ausgeschlossen fühle, sagt Mishchenko. „Es ist schade, dass die Themen russische Sprache und russische Kultur in der Ukraine so von Schmerz überlagert sind.“ Das Land sollte nicht entrussifiziert werden, nur weil Putin es entukrainisieren wolle.

14 Millionen auf der Flucht

Darüber, dass eben dies sein Anliegen sei, ließen Portnov und Mishchenko keinen Zweifel. Putins Ziel sei es nicht, den Donbass zu besetzen, sondern die Ukraine als solche zu vernichten. „Es geht hier nicht um irgendeine nationale Sturheit, die Gesellschaft kämpft um ihre bloße Existenz“, sagte die Autorin und Verlegerin Mishchenko. Der Kreml habe am Donbass selbst eigentlich gar kein Interesse, meint Portnov. 

Dieser sei nur Aufhänger des größeren Ziels einer die ganze Welt umspannenden geopolitischen Machtverschiebung. Die Ukraine sei somit nur der Anfang. „Es gibt kein Mariupol mehr, das muss man sich klar machen, wir führen diesen Krieg nicht nur um Unabhängigkeit, sondern ums nackte Überleben.“

Derzeit befinden sich 14 Millionen Ukrainer:innen auf der Flucht, davon die Hälfte im Inland. Die damit verbundenen Traumatisierungen seien noch überhaupt nicht messbar, meint Mishchenko. Auch sei eine gigantische Armutswelle im Anrollen, viele Menschen stünden buchstäblich vor dem Nichts.

Deutschlands Rolle

Und wie nimmt die ukrainische Gesellschaft angesichts dieser weitreichenden Verwüstungen das zögerliche Handeln der Bundesrepublik und die in Deutschland geführten Debatten über Waffenlieferungen wahr? Hier gebe es eine große Frustration und den Eindruck, Deutschland sei – ebenso wie Ungarn – ein hochproblematischer Partner, so Portnov.

Als Historiker könne er die zögerliche Reaktion Deutschlands verstehen, für die Ukraine aber sei sie verheerend. Kateryna Mishchenko wandte ein, die Russen würden heute die Kriegspolitik der Nazis imitieren. „Gerade deshalb sollte Deutschland eine aktivere Rolle übernehmen und das Konzept der Vergangenheitsbewältigung mit einer neuen antifaschistischen Energie aufladen, die sich heute nun einmal gegen Russland wenden muss.“

Versäumnisse der Wissenschaft

Und warum haben große Teile der Wissenschaftsszene die Kriegskatastrophe nicht antizipiert? Schon der Historiker Timothy Snyder hat moniert, dass es in seiner Zunft lange Zeit kaum Interesse an der Ukraine als einem eigenständigen historisch-politischen Gebilde gab. 

„Auch ich sehe hier großen Nachholbedarf“, erklärte der Münchner Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel, der die Veranstaltung im Wissenschaftskolleg moderierte. Die Zeitenwende hat auch für die Forschung Konsequenzen.

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