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Unerwünscht. Kurz nach dem Amoklauf von Winnenden im März 2009 versuchte die Schule, übergriffige Medienvertreter mit Verbotsschildern abzuwehren.

© picture-alliance/ dpa

Folgen aus Winnenden und Columbine: Medien gehen mit Amokläufen oft falsch um

Amokläufe an Schulen und andere Gewalttaten: Mit dem Film "media running amok?" wollen Forscher der Freien Universität über die Folgen von Medienberichten aufklären.

Was tut ein Reporter, wenn er am Schauplatz eines Amoklaufs ist und ihm ein sechzehnjähriges Mädchen vor die Kamera stolpert? Er hält drauf. Fragt: „Warst du dabei?“ Das Mädchen nickt, die Informationen sprudeln. So geschehen 2009 wenige Minuten nach dem Amoklauf an der Albertville-Realschule in Winnenden. Heute sagt das Mädchen: „Ich war 16, ich hatte noch nie vorher ein Kamerateam gesehen.“ Experten sagen: Billige Effekthascherei, Emotionalisierung ohne Informations-Mehrwert. Muss das sein?

Geht es nach dem Film „media running amok?“, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde, heißt die Antwort: Nein. Die 23-minütige Doku, die im Forschungsverbund „Target“ produziert wurde, soll künftig für die Aus- und Weiterbildung von Journalisten verwendet werden. „Target“, das von Herbert Scheithauer von der Freien Universität Berlin koordiniert wird, hat sich zum Ziel gesetzt, Fälle hochexpressiver, zielgerichteter Gewalt zu analysieren, um mit den Forschungsergebnissen künftig Präventionsmaßnahmen verbessern zu können.

Beteiligt sind Wissenschaftler aus der Psychologie, Kriminologie, Psychiatrie sowie Soziologie und Pädagogik. Hochexpressive Gewalt, darin sind sich die Forscher einig, stellt mittlerweile eine enorme Bedrohung der urbanen Sicherheit dar. Unter diesen Begriff lassen sich nämlich nicht nur Amokläufe an Schulen einsortieren, sondern etwa auch terroristische Anschläge. Und die Massenmedien, die in den meisten Fällen mehr oder weniger genüsslich Berichte über eben jene Taten produzieren, wirken wie ein Verstärker des Gewalt-Systems.

„Media running amok?“ am Beispiel Winnenden ist also nur ein Fall, der exemplarisch für eine lange Reihe journalistischen Fehlverhaltens in der Gewaltberichterstattung dient. Der Film kritisiert einerseits die Rücksichtslosigkeit, mit der manche Journalisten seinerzeit den Angehörigen von Opfern und Betroffenen nachgestellt hatten. Andererseits warnt er davor, sich exzessiv auf die Darstellung des Täters zu fixieren. Wenn sich Journalisten nicht sicher seien, ob sie ein Bild des Täters zeigen könnten, sollten sie sich fragen, ob es gut in einen Propaganda-Film im Sinne des Täters passen würde, sagt Frank Urbaniok, Leiter des Psychologisch-Psychiatrischen Dienstes Zürich. „Ist die Antwort ,Ja’, sollte davon Abstand genommen werden.“ Herbert Scheithauer will bei der „Target“-Forschung bemerkt haben, dass sich viele Täter von ihren „Vorgängern“ inspirieren lassen. So gelte etwa das Massaker an der Columbine Highschool von 1999 als Fixstern für die meisten Amokläufer, die ihre Taten danach verübten. „Man findet oft identische Selbstdarstellungen“, sagt Scheithauer.

Pädagoge Nils Böckler erklärt dazu im Film: „Viele Amokläufer beziehen sich aufeinander. Sie inszenieren sich nicht als Wahnsinnige, sondern als politische Aktivisten.“ Um künftigen Taten vorzubeugen, sollten die Massenmedien daher darauf verzichten, Einzelheiten über den Täter und seinen persönlichen Werdegang zu veröffentlichen. Dem Bezugssystem potenzieller Nachahmer würde so die Grundlage entzogen, hoffen die Forscher.

Nachahmer sind ein schwieriges Thema. „Target“ untersucht hochexpressive Gewalttaten der vergangenen 25 Jahre in Deutschland, die einem bestimmten, komplexen Muster entsprechen. Die Fälle werden mit unterschiedlichen Methoden ausgewählt, etwa per Samples, aber auch aus Akten der Staatsanwaltschaft. Doch auf die Frage, wie viele Nachahmungstaten sich tatsächlich auf Berichterstattung zurückführen lassen, kann Scheithauer keine konkreten Zahlen nennen. Allerdings werte „Target“ die Berliner Meldebögen aus, mit denen Schulen angekündigte oder angedrohte Gewalttaten melden können. In den vergangenen zehn Jahren wurden in Berlin über 420 solcher Drohungen registriert. Scheithauer geht davon aus, dass Medienberichte solche Drohungen „beflügeln“.

„Professionell ächten“ solle man bestimmte Arten der Gewaltberichterstattung wie die Befragung von Opfern kurz nach der Tat, sagt Frank Urbaniok. Damit werde man den größten Erfolg erzielen – auch, weil die Konsumenten womöglich gar nicht all das sehen und lesen wollen, was Journalisten ihnen zu den Extremfällen anbieten. Thomas Görger, der „media running amok?“ produziert hat, mutmaßt, dass Reporter schnell in „Reflexe“ verfallen würden, die sie dazu verführen, sich auf Opfer und Täter zu fixieren. Die Kommunikationswissenschaft nennt diesen Effekt, der seit Jack the Ripper nachzuweisen ist, „mediale Bändigungsmechanismen des Bösen“. Tatjana Kerschbaumer

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