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Postkarte, auf der der Weg vom lebenden Schwein zur Wurst illustriert ist.

© Abbildung: Sammlung Deutsches Fleischermuseum (Böblingen)

Fleisch – die Geschichte einer Industrialisierung: Schlachthäuser für die Leistungsfähigkeit der Arbeiterschaft

Vom Schwein zum Brühwürfel: Christian Kassung, Historiker an der Humboldt-Universität, erzählt die Geschichte der Fleischindustrie am Beispiel Berlins.

Was Sie über Schweinefleisch lieber nicht wissen wollten – Christian Kassung, Professor für Kulturtechniken und Wissenschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat es aufgeschrieben. Dass es sich beim Schweineschlachten um eine Kulturtechnik handelt, klingt im Licht der Skandale um die Schlachthöfe von Tönnies und Wiesenhof zunächst befremdlich und ist doch ein kulturgeschichtliches Faktum, wenn man der Geschichte seiner Industrialisierung folgt.

Christian Kassung rekonstruiert sie in seiner umfassenden Studie „Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung“, die alle Aspekte der Fleischindustrie von der Tierzucht über die Tierproduktion bis zum Konsum und ihrer strukturellen Vernetzung berücksichtigt.

Dabei steht die industrielle Fleischwerdung des Hausschweins am Beispiel Berlins stellvertretend für die gesamte Fleischindustrie und ihre Erzeugnisse, vom Schnitzel über Schinken, Bratwurst und Aufschnitt bis zur Sekundärverwertung für die Herstellung von Gelatine, Futtermitteln, Schuhcreme und Kunstdünger.

Berlin eignet sich gut als Beispiel, weil es spätestens seit der Reichsgründung 1871 die am dichtesten besiedelte Stadt der Welt war, deren Versorgung mit Konsumbedarf nur in industriellem Maßstab möglich war. Kassungs Kernthese lautet, Fleisch habe die Industrialisierung erst ermöglicht.

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Denn die Gesellschaften des 19. Jahrhunderts waren seit Helmholtz und Liebig der Überzeugung, dass nur Fleischverzehr den Energiebedarf arbeitender Menschen decken konnte. Diese folgenschwere Verknüpfung von Ernährungsgewohnheiten und Tätigkeit des Menschen basierte auf Justus von Liebigs Untersuchungen über Muskeltätigkeit bei mechanischer Arbeit und Eiweißumsatz, die sich auf die einfache Formel bringen ließen: Der Beefsteakarbeiter ist wesentlich leistungsfähiger als der Kartoffelarbeiter.

Bebel über Beefsteaks: "Aus sentimentalen Gründen bekämpft"

Das Konzentrat dieser Ernährungsideologie war „Liebigs Fleischextrakt“, den der Chemiker zunächst als Aufbaukost etwa für Cholerakranke entwickelte.

[Christian Kassung: Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung, Verlag Brill/Ferdinand Schöningh, Paderborn 2020. 294 Seiten, 39,90 Euro.]

In die politische Arbeiterbewegung brachte August Bebel 1879 die Empfehlung ein, „ein solides Beefsteak, eine gute Hammelkeule“ könnten vegetarische Nahrung entschieden verbessern – in paradoxer Argumentation: „Wenn der Vegetarismus sich gegen die Überschätzung des Nährgehalts der Fleischnahrung wendet, hat er Recht; er hat Unrecht, wenn er deren Genuß als verderblich und verhängnisvoll, aus zum Teil sehr sentimentalen Gründen bekämpft.“

Tausende von Rindern stehen auf einem Viehmarkt in Gattern, vor dem Transport in die Schlachhöfe.
Der damals größte Lebendviehmarkt der Welt, die Great Union Stock Yards, in Chicago im Jahr 1903.

© www.imago-images.de

In den Genuss von Rindersteaks kam die Arbeiterklasse allerdings nur ausnahmsweise, denn für die vorgekochte Arbeiterkost im Henkelmann oder bei Aschinger galt das „der Dampfmaschine entlehnte Prinzip der Effektivität: Nur wenn Fleisch zu einem Preis angeboten wurde, der es gerade noch erschwinglich machte, konnte dieser die für seine Tätigkeit notwendige Energie aufbringen“.

Ein zeitgenössischer Autor wollte den Schlachthof 1889 sogar als Wohlfahrtseinrichtung verstanden wissen. Das war nicht ganz abwegig, wenn die Errichtung zentraler Schlachthöfe durch den Staat erfolgte, um Infrastruktur und Hygieneregeln für die Anlieferung und massenhafte Schlachtung von Tieren für den explodierenden Fleischbedarf zu gewährleisten.

Vom Tierwohl war nicht die Rede

Dabei grassierte die Furcht vor der Trichinose, zu deren Bekämpfung 1868 in Preußen ein Gesetz über die Errichtung öffentlicher und ausschließlich zu benutzender Schlachthöfe erlassen wurde.

Der Pathologe Rudolf Virchow – in Pommern, der Heimat des Pommerschen Edelschweins und Hauptlieferant für die Berliner Fleischindustrie, geboren – war der führende Sozialhygieniker des Deutschen Reichs, das ihm das 1900 erlassene Gesetz zur obligatorischen Schlachtvieh- und Fleischbeschau verdankt.

Eine „Darstellung der Lehre von den Trichinen“ hatte er schon 1864 verfasst. Dass er als Politiker und Gegner Bismarcks dessen Forderung zum Duell mit der Wahl von Würsten, deren eine trichinös sein sollte, als Waffe beantwortet haben soll, ist allerdings Legende.

Über historischen Ziegelbauten lodern Flammen, Feuerwehrfahrzeuge und Helfer sind im Einsatz.
Gefährdetes Kulturerbe. Großbrand in einer Halle des ehemaligen Schlachthofs an der Landsberger Allee in Prenzlauer Berg (2018).

© Paul Zinken/dpa

Mögen also Sozialhygiene und staatliche Schlachthöfe zur öffentlichen Wohlfahrt in Preußen und Deutschland gedient haben, so war von Tierwohl dabei jedenfalls nicht die Rede. Nicht nur wegen der durch den Massenkonsum befeuerten Züchtung denaturierter Fleischschweine wie „schiere Fleischklötze“, die anders als das vorindustrielle Weideschwein eine Wiederauswilderung nicht überlebt hätten, sondern vor allem wegen der gnadenlosen Tötungsmaschinerie der Schlachthäuser.

Kassung beschreibt sie im Kapitel „Die Totschläger“, das die manuellen und maschinellen Techniken der Schweineschlachtung und ihre Praxis im Detail nachvollzieht. Sie ist kaum weniger grausam als die traditionelle Hausschlachtung, wie sie zuletzt Bernward Vesper in seinem Kultbuch „Die Reise“ beschrieben hat. Beides keine Lektüre für empfindsame Seelen.

Schlachter wurden zu "gewerbsmäßigen Totschlägern"

Kassung widerlegt den beschönigenden Mythos von „humanen“ Betäubungs- und Tötungsgeräten wie Bolzen und Masken, die so fehlerhaft und ungenau funktionierten, dass man im Berliner Zentralschlachthof Lichtenberg statt der durch „Probetöten“ frisch ausgebildeten Lehrlinge alsbald erfahrene Schlachter als „gewerbsmäßige Totschläger“ Hand anlegen ließ.

Auch ein 1902 ausgeschriebener Wettbewerb für ein effektives Betäubungsgerät – sinnigerweise von einer Wohltäterin namens Luise Bolza ausgelobt – fand unter 183 Apparaten kein preiswürdiges Gerät. Denn wann ein tödlich betäubtes Schwein wirklich tot ist, ist ebenso umstritten wie der Todeszeitpunkt beim Menschen. Nur für den Schlachter, meint Kassung, sei der Tod des Tieres mit der erfolgten Betäubung eingetreten. „Das betäubte Schwein ist für ihn, obwohl noch lebendig, zu Fleisch geworden.“

[Lesen Sie auch die Reportage von Sebastian Leber: Das Schweinesystem - was Insider über die Fleischindustrie verraten]

Das gilt erst recht für den Konsumenten, vor dem die Konstruktion der Schlachthäuser die blutige Prozedur durch eine Architektur zu verbergen suchte, die den eigentlichen „Massenmordhof“ (Franz Hessel) hinter gefälligen Ziegelsteinfassaden im Schinkel-Stil versteckte – außen Schinkel, innen Schinken.

Protestierende zeigen Plakate mit Schweinen kurz vor der Schlachtung und Schweinehälften, die von Arbeitern zersägt werden.
Im Mai 2020 protestieren Aktivisten von Greenpeace vor dem Bundeskanzleramt gegen die Fleischindustrie.

© Kay Nietfeld/dpa

Kassung definiert das Schlachthaus folgerichtig als Ort der Transformation des lebenden Tieres in dingliches Fleisch. Genau genommen galt das sogar schon für deren Vorbereitung durch Züchter, Aufkäufer und Zulieferer der für die industrielle Verwertung bestimmten Schweine. Beispiele sind das Pommersche Karbonadenschwein oder das Danziger Weiße Edelschwein, das „zu einer fleischproduzierenden Maschine“ geworden sei, während das auf Mast optimierte Landschwein Fleischkonserven, Wurst und Speck „liefern“ sollte.

Erst recht galt die Fleischwerdung des Tieres für die Konsumenten von Fleischwaren in der fernen Großstadt, die kaum je ein lebendes Schwein zu Gesicht bekamen, sondern – je nach Kassen- und Klassenlage – standardisierte Fleischprodukte als Brühwürfel, Brat- und Brühwurst, Aufschnitt, Schinken, Kotelett oder sonntags den gutbürgerlichen Schweinebraten. Die Berliner Favoriten Bouletten und Eisbein allerdings hat Kassung zu erwähnen vergessen.

Wobei die industrielle Verwertungskette mit der „Verwurstung alles dessen, was nicht als Fleisch auf die Teller kommen darf“ noch nicht an ihr Ende gekommen war. In der nach Rüdnitz bei Bernau ausgelagerten Abdeckerei brachte es noch handelbare Produkte hervor: Margarine, Gelatine und – mit Kleie aufgekocht, mit Rübenmasse oder Guano, Knochenmehl und Phosphaten gemischt – Futtermittel und Dünger.

„Das Fleisch“, schließt Kassung, „ist überall, es ist Kultur. Wir werden vom Fleisch verfolgt.“ Das gilt auch nach dem Ende der meisten kommunalen Schlachthöfe, an deren Stelle private Fleischfabriken wie Tönnies, Wiesenhof, Vion und Danish Crown getreten sind, die ihre Logistik und Wirtschaftlichkeit bis zur Perfektion getrieben haben – und sicher auch über die Covid-19-Ausbrüche hinaus.

Hannes Schwenger

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