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Zeugen der Evolution. Von Franz Martin Hilgendorf gesammelte versteinerte Süßwasserschnecken (Plaorbis multiformis) aus Steinheim, heute im Museum für Naturkunde.

© Radke/MfN

Evolution: Darwins Schneckenkönig

Vor 150 Jahren fand der Berliner Zoologe Franz Martin Hilgendorf Belege für die damals noch junge Abstammungstheorie.

„Die Erdrinde ist ein großes Museum; aber ihre naturgeschichtliche Sammlung ist unvollständig und sagt über bedeutende Zeitabschnitte nichts aus.“ Als Charles Darwin dies 1859 in seinem Werk „Die Entstehung der Arten“ schrieb, schätzte er realistisch ein, wie lückenhaft der Fossilbericht, die Dokumentation der versteinerten Organismen, war. „Selbst wenn wir unsere reichsten geologischen Museen durchwandern, welche Ärmlichkeit zeigt sich da“, notierte er später. Dabei hatte Darwin eine wichtige Untersuchung übersehen, einen der besten handgreiflichen Belege für Evolution, den es bei Fossilien bis heute gibt. Sowohl der Originaltext dieser ersten wissenschaftlichen Untersuchung als auch die sie begleitende Darstellung eines evolutiven Stammbaumes ist kürzlich im Berliner Naturkundemuseum wiederentdeckt worden. Damit fand sich zugleich eine der ersten Darstellungen zur Evolution überhaupt.

Darwin war sich schmerzlich bewusst, dass vielfach nicht nur Fossilien an sich fehlten. Er sah es selbst lange als Schwachstelle seiner Abstammungstheorie an, dass insbesondere Übergangsstadien zwischen verschiedenen Lebensformen nur selten oder gar nicht als Versteinerungen überliefert sind. Seine Theorie der Abstammung mit Abwandlung fordert solche Abstufungen aufeinanderfolgender Lebewesen.

Lange in Vergessenheit geraten ist, dass als einer der Ersten der Berliner Kurator Franz Martin Hilgendorf (1839 –1904) eines dieser seltenen Beispiele fossiler Anschauungsobjekte entdeckt und beschrieben hat. Noch dazu war er es, der solche Formenreihen auch als Erster ausdrücklich in den Zusammenhang mit Darwins Theorie stellte.

Übersehen wurde Hilgendorf möglicherweise, weil es sich bei diesem an sich spektakulären Beispiel um kaum zentimetergroße Süßwasserschnecken handelt. Diese Vertreter der Gattung Gyraulus finden sich tausendfach in den Ablagerungen eines Sees im Steinheimer Becken nördlich von Ulm. Heute wissen wir, dass es sich beim Steinheimer Becken um den Einschlagskrater eines Meteoriten handelt. In dem Krater existierte vor 14,3 bis 13,5 Millionen Jahren ein großer Süßwassersee von mehr als drei Kilometern Durchmesser. Zwar bestand dieser See für nur vergleichsweise kurze Zeit, doch hat sich darin eine ganz eigene Lebensgemeinschaft gebildet. Vor allem die Gyraulus-Schnecken durchliefen in der Abgeschiedenheit dieses Beckens eine ganz eigenständige Evolution. Mehr noch: Offenbar war die Natur bei ihnen zum Experimentieren mit verschieden gestalteten Formen aufgelegt.

Franz Hilgendorf hatte an der Berliner Universität sein Studium begonnen, war dann aber 1861 nach Tübingen gewechselt. Im Sommer 1862 machte er mit seinem akademischen Lehrer, dem Geologen Friedrich August Quenstedt, eine Exkursion ins nahe Steinheimer Becken. Hilgendorf erkannte, dass in den übereinanderliegenden sandigen Schichten des einstigen Sees verschiedene Schnecken mit markanter Gestalt vorkommen, und zwar nicht zufällig. Vielmehr wandelten sich die Schnecken (die damals noch Planorbis hießen) von anfangs flach-spiraligen glattschaligen Formen zu hochgetürmten mit kantigen Umgängen und schließlich wieder zu solchen mit flachen Schalen, und sie alle waren durch Zwischenformen miteinander verbunden.

In seiner aus diesen Beobachtungen entstandenen Doktorarbeit wies Hilgendorf erstmals nach, dass sich die Schnecken-Reihe von unten nach oben in den Ablagerungen und damit durch die Zeit verfolgen ließ. Für ihn waren die Schnecken in den höheren Schichten eindeutig Nachkommen jener Formen, die er in darunterliegenden Schichten fand. „Die Übergangsformen“, schrieb Hilgendorf, „stellen die Gleichartigkeit außer Frage.“ Überdies erkannte er, dass sich die Schnecken wie in einem Stammbaum aufspalteten. Vor 150 Jahren, im Mai 1863, reichte Hilgendorf seine Doktorarbeit als „Beiträge zur Kenntnis des Süßwasserkalks von Steinheim“ der Tübinger Philosophischen Fakultät ein – in sauberer Handschrift mit kaum einmal einer Korrektur in einem unlinierten Schreibheftchen auf 42 Seiten aufgezeichnet. Darwin erwähnt er dabei namentlich nur einmal auf der letzten Seite; doch die ganze Arbeit belegt dessen Theorie. Doch Hilgendorfs Dissertation galt lange als verschollen. Erst jetzt wurde das Heftchen unter den Archivalien des Naturkundemuseum in Berlin wiedergefunden und erstmals veröffentlicht.

Hilgendorf arbeitete von 1877 an im Berliner Naturkundemuseum. Er selbst hat seine Entdeckung zwar einige Jahre nach der Promotion publiziert, doch seine einstige Arbeit dabei abgewandelt. Ein Grund dafür dürfte gewesen sein, dass sein Tübinger Lehrer Quenstedt weder von Darwins Evolutionstheorie etwas hielt noch von Hilgendorfs Interpretation sonderlich begeistert war. Hilgendorf sah seine Resultate nämlich mit der Idee von der „Constanz der Spezies unvereinbar“ und schrieb, dass seine Planorbis-Schnecken „sämtlich durch Übergänge verbunden sind und in genetischem Zusammenhang miteinander stehen“.

Am wenigsten dürfte Quenstedt mit Hilgendorfs origineller Art der Illustration einverstanden gewesen sein. Der fasste seine Ergebnisse bereits während der Dissertation grafisch zusammen, wobei eine der ältesten Stammbaum-Darstellungen entstand. Hilgendorf illustrierte sowohl die allmählichen Formenveränderungen innerhalb einzelner Arten als auch die Auf- und Abspaltung von Arten, und zwar dadurch, dass er Schneckenschalen auf dünne Pappen aufklebte und diese Formen dann mit Stammbaumlinien verband.

Für eine gedruckte Fassung seines Schnecken-Stammbaums wurden diese Schalen später dann gezeichnet. Sämtliche Illustrationen und die seiner Dissertation zugrunde liegenden Pappen haben sich im Naturkundemuseum in Berlin erhalten. Dort wurden sie in den Sammlungsschränken zusammen mit jenen Schalen aufbewahrt, die Franz Hilgendorf bei seinen Exkursionen in Steinheim sammelte.

Der Autor ist Biologe am Berliner Museum für Naturkunde.

Matthias Glaubrecht

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