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Slash Infarkt. Die „Ever Given“, Schrägstrich in der Wüstenlandschaft.

© Planet Labs/AP/dpa

„Ever Given“ wurde zum Opfer der Physik: Was das Containerschiff im Suezkanal wirklich quergelegt hat

Wer physikalische Gesetze missachtet, wird bestraft. Das Wirken eines solchen - und nicht der Wind – hat die „Ever Given“ wohl in ihre missliche Lage gebracht.

Die globalisierte Welt erleidet den Verschluss einer ihrer Hauptschlagadern. Seit Dienstag vergangener Woche war der Suezkanal in Ägypten verstopft. Der blockierende Thrombus hieß „Ever Given“. Er ist mit einer Länge von 400 Metern und fast 60 Metern Breite eines der größten Containerschiffe der Erde. Am Montag wurde es wieder aus seiner misslichen Querlage befreit. Es wurde gedreht und alle zuvor festsitzenden Bereiche schwimmen wieder.

Die Therapie des Kanal-Infarkts ist also wohl gelungen, wenn auch erst nach Tagen und mit milliardenschweren Folgeschäden. Doch wenn man Wiederholungen vermeiden will, sollte man auch die Ursachen kennen. Wie also konnte derlei überhaupt passieren?

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Beladen wie derzeit mit 18.300 Containern hat das Schiff einen Tiefgang von etwa 16 Metern. Eigentlich kein Problem: Der Kanal ist 24 Meter tief. Doch auf diese Tiefe ist der Wüstensand nur auf einer Breite von 121 Metern ausgebaggert. Jenseits dieser Fahrrinne steigt der Boden zum Ufer hin gleichmäßig an.

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Es bleibt wenig Platz für das maritime Ungetüm zum Manövrieren. Gerät es auch nur um etwa 70 Meter nach rechts oder links von seinem Kurs in der Mitte des Kanals ab, schlittert es bereits am aufsteigenden Sandboden entlang. Insbesondere wenn starker Seitenwind gegen die rund 40 Meter in die Höhe gestapelte Wand der Container bläst, wird es schwierig, das Schiff auf Kurs in der Mitte des Kanals zu halten. Am Tag der Havarie misslang das dem Steuermann der „Ever Given“ offenbar.

Kanal voll

Auf einem Video der Schiffstracking-Plattform „VesselFinder“ ist der Kurs der „Ever Given“ durch den Suezkanal festgehalten. Dort ist zu sehen, wie das Schiff sich auf der Fahrt nach Norden schon kurz nach seiner Einfahrt in den Kanal etwa um 7.40 Uhr morgens (Ortszeit) zunehmend dem westlichen, also in Fahrtrichtung linken Kanalufer näherte. Offen ist noch, ob es tatsächlich der für diese Zeit gemeldete starke Wind zusammen mit einem entsprechenden Steuermanöver war, der das Schiff von seinem Kurs abkommen ließ.

Was jedoch danach geschah, hatte laut Auskunft des Seefahrtechnik-Ingenieurs Evert Lataire nichts mehr mit Wind oder vielleicht schlechter Sicht infolge eines Sandsturms zu tun. Lataire ist Leiter der „Maritime Technologie Division“ der Universität Gent in Belgien.

Zusammen mit dem Wissenschaftsinstitut „Flanders Hydraulic Research“ untersucht seine Forschungsgruppe das Verhalten von Schiffen in flachen und engen Gewässern. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel unterstrich er seine Überzeugung, dass bei der Havarie der „Ever Given“ der sogenannte „Bank Effect“ wirkte.

Wie der Name besagt, entsteht er, wenn ein Schiff sich dem Ufer (englisch „bank“) nähert. Und besonders stark können die Kräfte des Ufer-Effekts werden, wenn ein großes Schiff wie die „Ever Given“ durch die Wassermassen eines engen Kanals pflügt. Nähert sich das Schiff einem der Ufer, wird auf dieser Seite der Raum für die vom Rumpf verdrängten Wassermassen immer enger.

Als Folge strömt das verdrängte Wasser immer schneller zwischen der Seitenwand des Schiffs und der nahen Uferböschung hindurch. Und dadurch wiederum verändert sich der Druck im strömenden Wasser gemäß einem Gesetz, das der Schweizer Physiker Daniel Bernoulli schon 1838 entdeckte und in eine Gleichung, die heute seinen Namen trägt, goss.

Geschwindigkeit und Druck

Je schneller das Wasser strömt, desto geringer ist der Druck in ihm. Bernoulli hätte sich aber wohl kaum vorstellen können, dass dermaleinst aufgrund einer praktischen Auswirkung seines physikalischen Strömungsgesetzes mindestens ein Zehntel des weltweiten Warenverkehrs zum Erliegen kommen würde.

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In den Worten von Professor Lataire machte sich die Erkenntnis von Bernoulli folgendermaßen bemerkbar: „Die unterschiedlichen Druckverhältnisse bewirkten, dass das Schiff unabwendbar im Uhrzeigersinn zu gieren begann.“ Das heißt: Sein Bug entfernte sich zunächst wieder etwas vom Westufer des Kanals, während sein Heck sich Richtung Ufer bewegte. Die Längsachse des Schiffs drehte sich insgesamt nach rechts um eine gedachte senkrechte Achse etwa in der Mitte des Schiffs.

Schon die Drehung um nur 20 Grad genügte und die Katastrophe für die globalisierte Weltwirtschaft war perfekt: Mit einer Geschwindigkeit von über zehn Knoten und dem Newtonschen Beharrungsvermögen einer trägen Schiffsmasse von über 200 000 Tonnen begann der Wulstbug der „Ever Given“ sich tief in den Sand der östlichen Uferböschung des Suezkanals zu bohren.

Transportieren und Blockieren

Ihr Heck dagegen lief am gegenüberliegenden Westufer auf Grund. Und so blockierte das 400 Meter lange Schiffshindernis schräg von Südwest nach Nordost im Suezkanal liegend den kürzesten Seeweg und damit einen Großteil des Handelsverkehrs zwischen Asien und Europa sowie die Öltransporte aus dem Nahen Osten. Insbesondere führende Wirtschaftsmedien beschäftigten sich intensiv mit dieser akuten schweren Gefäßerkrankung der Weltwirtschaft.

Große Schiffe können viel transportieren – aber eben auch effektiv blockieren. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis eines der immer länger und breiter werdenden Megaschiffe, die einen Großteil der Globalisierungslasten um die Erde tragen, einen solchen Megaschaden verursachen würde. Ob in Zukunft Prävention gelingt, hängt nicht nur davon ab, ob den Schiffsführern der gute alte Bernoulli präsent sein wird. Denn die chronische Ursache - träge, schwere, breite Riesenschiffe - bleibt.

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