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Frauen stehen in einer Bibliothek oder sitzen dort am Computer.

© Mike Wolff

Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache: Willkommen im Wortreich

Der Bericht zur Lage der deutschen Sprache zeigt, dass sich die Deutschen heute komplexer ausdrücken.

Für Sprachkritiker ist es mit der deutschen Sprache wie mit einem Einkauf in einem Berliner Luxuskaufhaus: Das Sortiment mag riesig sein, doch längst nicht jeder hat Zugang dazu. Manchen ist der Weg dorthin zu weit, andere können sich das Angebot nicht leisten. Bei der Sprache fürchten Kritiker entsprechend ein nachlässiges Bildungssystem oder bequeme Ausflüchte ins Englische. Schnell fällt dann der Begriff „Spracharmut“.

Für den ersten „Bericht zur Lage der deutschen Sprache“ haben vier Sprachwissenschaftler diese Vorwürfe untersucht – und empirisch widerlegt. Sie zeigen, dass sich die Deutschen heute vielfältiger ausdrücken können als je zuvor. Allein ihr Wortschatz ist in den letzten 100 Jahren um 1,6 Millionen Wörter gewachsen. Bei der Grammatik sind zwar leichte Einbußen zu verzeichnen, etwa beim Konjunktiv I, der immer seltener genutzt wird. An anderer Stelle werden solche Verluste aber wieder ausgeglichen, weil die Deutschen veraltete und neue Sprachregeln spielerisch kombinieren. Man könnte auch sagen: Nie haben sie großzügiger im Sprach-Kaufhaus geshoppt.

Das gilt zumindest für das geschriebene Wort. In dem Bericht geht es den Autoren, Sprachwissenschaftlern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften um das „Standarddeutsche“, also um geschriebene und redigierte Texte. Die Forscher verglichen insgesamt eine Milliarde Wörter aus Belletristik, Wissenschaft und Journalismus zwischen 1905 und 2004. Unter anderem nutzten sie dafür das Archiv des Tagesspiegels. Nachdem die Wissenschaftler bereits im März erste Ergebnisse präsentiert hatten, stellten sie am Montagabend in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt die fertige Publikation unter dem Titel „Reichtum und Armut der deutschen Sprache“ vor.

Mehr als 30 Prozent mehr Wörter seit Beginn des 20. Jahrhunderts

Besonders deutlich wird der Reichtum der deutschen Sprache an ihrem Wortschatz. Wolfgang Klein, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen, spricht von einem mehr als dreißigprozentigen Zuwachs an Wörtern seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf etwa 5,3 Millionen. Was genau ein Wort ausmacht, ist allerdings schwer zu sagen. Denn viele Worte sind mehrdeutig: „Verband“ kann sowohl einen Flottenverband meinen als auch einen medizinischen Verband. Zählt man das Wort also doppelt? Angestiegen ist die Menge aber zweifellos und das hat die Ausdrucksmöglichkeiten der Deutschen vergrößert.

Vor allem die Komposita haben sich vermehrt. Manche Begriffe hängen dabei schlicht mit technischen Neuerungen zusammen. Die Worte „Parklücke“ und „Führerschein“ tauchen dementsprechend erst im 20. Jahrhundert auf. Doch auch „Auszeit“ oder „Teilzeit“ gelten als neue Begriffe, obwohl sie sich aus zwei bekannten Worten zusammensetzen. Das Konzept der Teilzeit erschließe sich nicht automatisch, nur weil man die Worte „Teil“ und „Zeit“ kenne, sagt Wolfgang Klein.

Die Grammatik wird einfacher - typisch für große Kultursprachen

Auch bei der Grammatik sehen die Linguisten keinen Grund zur Sorge. Sie verändert sich zwar nicht so rasant wie der Wortschatz, doch auch hier sind die Nutzer kreativ. Insgesamt wird die Grammatik einfacher, eine Entwicklung, die für große Kultursprachen typisch ist. Skeptiker sprechen dennoch von „Formenverfall“. Tatsächlich vermeiden viele Sprecher heute den Genitiv, indem sie ihn als Attribut nutzen: Den „Besuch vom Onkel“ gibt es häufiger als den „Besuch des Onkels“. Allerdings wären auch viele Genitive, die heute als „gutes Deutsch“ gelten, im 19. Jahrhundert glatt durchgefallen. Damals sagte man ein „Glas gutes Weines“. Heute trinken stilbewusste Sprecher ein „Glas guten Weins“.

Beim Dativ haben sich einige altmodische „e“-Endungen gehalten, etwa wenn das Kind mit dem „Bade“ ausgeschüttet wird oder jemand zu „Tode“ kommt. Der Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, Ludwig Eichinger, der diese Entwicklung untersucht hat, sagt, dass Deutsche im Schriftdeutsch kreativ mit älteren und neueren Formen umgehen. „Wir sind kluge Schreiber, weil wir die Optionen, die wir haben, sinnvoll nutzen.“

Anglizismen, die keine sind - und nützliche Anglizismen

Die Widerstandsfähigkeit der deutschen Grammatik zeigt sich auch bei den Anglizismen. Der Einfluss des Englischen ist Sprachkritikern schon lange ein Dorn im Auge. Doch Peter Eisenberg, emeritierter Sprachwissenschaftler der Universität Potsdam, zeigt, dass die meisten englischen Vokabeln wie deutsche Worte benutzt werden. Die englische Grammatik wird ignoriert, und bei Begriffen wie „Babyalter“ handelt es sich nicht um Anglizismen, sondern um deutsche Sprachprodukte. Auch wer sich über Schwierigkeiten beim Konjugieren englischer Verben beschwere, liege meist falsch: Ob man „downgeloaded“ oder „gedownloaded“ sagt, ist nämlich ein Problem des Deutschen: Auch hier kann man sowohl „gebauspart“ als auch „baugespart“ sagen.

Dass beides richtig ist, empfinden viele Sprecher allerdings als unbefriedigend. Werner Scholze-Stubenrecht kennt das von seiner Arbeit als Chefredakteur des „Duden“. „Die meisten Leute wünschen sich, dass wir eine Art Sprachpolizei sind“, sagt er. „Viele erwarten auch, dass wir etwas gegen den Einfluss des Englischen tun.“ Nehme der Duden ein Wort wie „Flashmob“ auf, hagele es Beschwerden. Dabei bildet das Wörterbuch nur den Sprachgebrauch ab. Wörter, die Menschen häufig benutzen, werden automatisch in dem Lexikon aufgenommen.

Das "Event" ist keine Katastrophe, sondern bereichert die Sprache

Dennoch sind sich die Linguisten einig, dass nicht jeder Anglizismus eine Bereicherung ist. In der Werbesprache sind sie häufig irreführend. Doch längst nicht alle Wörter setzen sich durch. Der „City Call“ der Deutschen Telekom hatte nur eine kurze Lebensdauer. Sinnvolles dagegen bleibt und trägt zur Differenzierung der deutschen Sprache bei. Das „Event“ hat die „Veranstaltung“ nicht verdrängt, sondern um eine Facette ergänzt.

Ähnlich ist es beim sogenannten „Kanzlei-Stil“. In der Ratgeberliteratur wird häufig empfohlen, Konstruktionen wie „eine Entscheidung treffen“ durch ein simples „entscheiden“ zu ersetzen. Manche dieser „Streckverbgefüge“ halten sich aber aus gutem Grund, sagt Angelika Storrer, die den Bereich für den Bericht untersucht hat. „Dem Krieg eine Absage erteilen“ sei eben nicht dasselbe wie „den Krieg absagen“.

E-Mails und Internet-Chats könnten künftige Sprachberichte untersuchen

Die Kaufhaus-Analogie der Sprachkritiker ist dennoch nicht ganz von der Hand zu weisen. Streng genommen haben die Linguisten nur das Sortiment der deutschen Sprache überprüft, die Einkäufer aber bleiben im Dunkeln. Internet-Chats und E-Mail-Verkehr, an denen sich die Kritik häufig festmacht, wurden nicht berücksichtigt, weil die Forscher nur das Standarddeutsche interessierte. Herauszufinden, wie die Sprache in anderen Kommunikationsformen genutzt wird, bleibt künftigen Berichten überlassen.

Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.): Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache. De Gruyter, Berlin 2013. 233 Seiten, 29,95 Euro.

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