zum Hauptinhalt
Durch den auftauenden Boden verlieren Gebäude in Sibirien an Stabilität.

© Maxim Shemetov, Reuters

Erderwärmung setzt Polarregion unter Druck: Erosion der arktischen Küsten beschleunigt sich

Polarforschende erfassen Gefahren durch auftauenden Dauerfrostboden. Millionen Menschen betroffen, Risiken auch für die Erdgasversorgung Europas.

Es ist wie das Öffnen der Büchse der Pandora. In der Arktis erwärmt sich die Erde gegenwärtig schneller, als in jeder anderen Erdregion. Durch das Auftauen des bisweilen seit zehntausenden Jahren gefrorenen Permafrostbodens können ungeahnte Gefahren aus der Tiefe ans Tageslicht kommen. 

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können]

Zum einen wird über Zersetzungsprozesse und aus Speichern in Gesteinsschichten Methan freigesetzt, das ein weitaus höheres Treibhauspotenzial hat als Kohlendioxid. Zum anderen lauern im Untergrund aber auch Gefahren wie radioaktive Abfälle aus dem Kalten Krieg, womöglich sogar antibiotikaresistente Bakterien und über Jahrzehnten angesammelte Schadstoffe. „Die Risiken der Schadstoff-Freisetzung werden komplett unterschätzt“, so Guido Grosse, Leiter der Permafrostforschung am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI).

Das Tempo der Veränderungen nimmt zu

Bessere Prognosen und und Anpassungsstrategien sieht die AWI-Forscherin Anna Irrgang, die mit ihrem Team nun im Fachmagazin „Nature Reviews Earth & Environment“ einen Übersichtsartikel zur Situation an den arktischen Küsten veröffentlicht hat, als wichtigste Ziele.

„Das Tempo der Veränderungen in der Arktis nimmt zu und führt zu einem beschleunigten Rückzug der Küsten“, erklärte Irrgang. Das wirke sich sowohl auf die natürliche als auch auf die menschliche Umwelt aus, „zum Beispiel indem Kohlenstoff aus dem Boden in das Meer und in die Atmosphäre gelangt oder das Land abbricht, das Gemeinden und Infrastrukturen trägt.“

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Meereis, Bodeneis und Permafrost an den arktischen Küsten reagierten besonders empfindlich auf die Erderwärmung. Die ohnehin schon schnelle Erosion der Küstenlinien in der Region werde durch die erhöhten Temperaturen weiter vorangetrieben. „Die steigende Erwärmung beeinflusst Uferstabilität, Sedimente, Kohlenstoffspeicher und Nährstoffmobilisierung“, schreiben die Forschenden in ihrem Beitrag in einer Sonderausgabe von „Nature Reviews Earth & Environment“ zum Thema Permafrost.

Die Situation ist regional sehr unterschiedlich. Während es in Alaska, Kanada und Sibirien Bodeneis mit bis zu 40 Meter hohen Permafrost-Steilküsten gibt, ist Bodeneis in Grönland und Spitzbergen nur sporadisch vorhanden. Die geomorphologischen Unterschiede sind groß, auf sie müsse individuell reagiert werden. 

Küsten durch Erwärmung länger starken Wellen ausgesetzt

Permafrost-Steilküsten bestehen zu bis zu 80 Prozent aus Eis und sind recht widerstandfähig. Durch die erhöhten Luft- und Wassertemperaturen werden sie aber besonders anfällig für die Zerstörung durch Wellen. Der Abtrag der Küsten geht schneller vonstatten. Vor allem im stürmischen Herbst sind die Küsten mittlerweile durch die Erwärmung länger starken Wellen ausgesetzt.

Die Forschenden haben durch den Vergleich der arktischen Küstenlinien festgestellt, dass „die überwältigende Mehrheit“ der Permafrostküsten durch Erosion zurückgehen. So verliere beispielsweise die nordkanadische Herschel-Insel jährlich bis zu 22 Meter ihrer Steilküste. Mit entsprechenden Folgen: Organischer Kohlenstoff, Nährstoffe und Schadstoffe können so in die küstennahe Umwelt und in die Atmosphäre entweichen. 

Die Forschenden schätzen, dass durch Küstenerosion jährlich etwa 14 Megatonnen organischer Kohlenstoff in den Arktischen Ozean gelangen. Das ist mehr als von den riesigen arktischen Flüssen eingespült wird.

Durch die Entwicklung entstehen in der Region ganz neue Herausforderungen, das Auftauen der bislang festen Böden wirke sich auch auf die Menschen vor Ort aus. Die Forschenden schätzen, dass rund 4,3 Millionen Menschen von den Folgen betroffen sein werden. „Sie verlieren Gebäude und Straßen, traditionelle Jagdgebiete und auch Kulturstätten“, so die Autor:innen der Studie. „In Alaska müssen ganze Siedlungen bereits jetzt aufgegeben werden und Menschen umziehen.“

Trotz Risiken wird für Öl- und Gasindustrie gebaut

Durch die Erosion gefrorener Flächen und das Auftauen des Permafrosts entstünden unkalkulierbare Risiken aufgrund von Umweltverschmutzungen durch industrielle Infrastrukturen. Ungeachtet der Risiken werde in Permafrost-Regionen aber überraschend viel gebaut, sagte Permafrost-Experte Guido Grosse, der an der Untersuchung nicht beteiligt war.

Trotz der entstehenden Gefahren wird unter anderem auch für die Öl- und Gasindustrie weitere Infrastruktur geschaffen – die durch das Auftauen des Bodens schnell in Gefahr geraten kann. Ein Teil der Schäden könnte in russischen Gebieten auftreten, in denen das in Deutschland und anderen europäischen Staaten genutzte Erdgas gefördert wird, heißt es in einem weiteren Beitrag in „Nature Reviews Earth & Environment“. Laut der Forschergruppe um Jan Hjort von der University of Oulu (Finnland) sind 30 bis 50 Prozent der Gebäude und Infrastruktur-Einrichtungen in diesen Gebieten bis 2050 von Schäden verschiedener Schweregrade bedroht.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

In gut der Hälfte der erfassten vom Menschen beeinflussten Permafrost-Gebiete könnte die Bodentemperatur in zwei Metern Tiefe demnach bis zum Jahr 2050 bereits über null Grad Celsius liegen, schätzen Wissenschaftler:innen um Annett Bartsch vom Austrian Polar Research Institute (APRI) kürzlich in einem Beitrag im Fachjournal "Environmental Research Letters"

Vor diesem Hintergrund betonen die Autor:innen der AWI-Studie, dass es künftig wichtig sei, genaue Daten zu den Lebensbedingungen an arktischen Küsten zu erheben. „Unser derzeitiges Verständnis der arktischen Küstendynamik ist fragmentiert, da es zu wenige Daten über Umweltfaktoren und die Veränderung der Küstenlinien mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung gibt", sagt Anna Irrgang. Arktisweite Beobachtungen von Umweltfaktoren und Küstenveränderungen würden dringend benötigt, um Unsicherheiten bei weiteren Prognosen zu verringern.

Solche Vorhersagen seien für die Menschen vor Ort von großer Bedeutung, da sie sich mit neuen sozio-ökologischen Entwicklungen arrangieren müssen. „Hierfür müssen wir Anpassungsmethoden entwickeln, die gute und nachhaltige Lebensbedingungen in arktischen Küstensiedlungen ermöglichen“, so Irrgang. „Eine enge Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort ist dabei zentral.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false