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In einem leeren Klassenraum einer Grundschule sind die Stühle auf die Bänke gestellt. Eine Maske liegt auf einem Tisch.

© imago images/Kirchner-Media

Update

Eine Gesamtstrategie für Schulen in der Pandemie: Was die Bildungsforschung den Kultusministern rät

Wie funktioniert Schule in Zeiten von Corona? Eine aktuelle Stellungnahme namhafter Bildungsexpert:innen will die Schulpolitik auf einen neuen Weg lenken.

Entscheidungen über vollständige oder teilweise Schulschließungen sollte die Schulpolitik „auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis sowie länderübergreifend vereinbarter, eindeutiger und transparenter Kriterien“ treffen. Diese sollten dann bundesweit einheitlich umgesetzt werden.

Was hier so ganz anders klingt, als der bisherige Umgang der deutschen Kultusministerinnen und -minister mit dem Corona-Schulbetrieb, kommt von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie hat eine Expert:innenkommssion beauftragt, für die Schulen „Lehren aus der Pandemie“ zu ziehen.

Vorgelegt wurde Empfehlung am Donnerstag, zwei Tage nach dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz und der Kanzlerin, auch die weitgehenden Schulschließungen bis zum 14. Februar zu verlängern. Der Schullockdown sei „restriktiv“ auszulegen, auch weil sich die die ansteckende Covid-19-Mutation B 117 unter Kinder stärker ausbreite.

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Unter der Leitung von Kai Maaz, Direktor am DIPF, dem Leibniz-Institut Bildungsforschung, empfiehlt das 22-köpfige Gremium den Schulministerien auch, sich bei Schulschließungen „an zuvor festgesetzten Inzidenzwerten“ zu orientieren. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat dies bisher abgelehnt und lange darauf gepocht, dass Schulen keine Pandemietreiber seien und wegen des „Rechts auf Bildung“ bei einem Lockdown an letzter Stelle stehen sollten.

„Klare Regelungen“ für den Schulbetrieb

Die Stellungnahme der namhaften Bildungsforschenden für die Ebert-Stiftung, darunter die Berliner Expertin für Bildungsqualität Petra Stanat und Birgit Eickelmann aus Paderborn, die die Digitalisierungsstudie ICILS leitet, wurde am Donnerstag in einer Online-Pressekonferenz vorgestellt. Beteiligt waren unter anderem auch die Didaktik und die Schulpraxis (die vollständigen Empfehlungen finden Sie hier).

Der Fokus der Empfehlungen liegt auf der Frage, wie sich „gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendlichen sichern“ lassen. Die aktuelle Expertise schließt an eine Empfehlung des Gremiums vom Mai 2020 an, in dem es einen Stufenplan für den Pandemiebetrieb der Schulen forderte.

Doch zunächst ist frappierend, wie deutlich die Gruppe, in der auch Schulleitungen, Schüler- und Elternsprecher vertreten sind, „klare Regelungen“ für den Schulbetrieb fordert – wenn auch jeweils mit „Gestaltungsspielraum für die Schulen“. So müsse die Schulpolitik ein Gesamtkonzept für das zweite Schulhalbjahr 2020/21 erarbeiten.

Dieses müsse „angesichts des anhaltend hohen Infektionsgeschehens und neuer Virusmutanten auch die Möglichkeit länger andauernder Phasen des Wechsel- oder Distanzunterrichts berücksichtigen“. „Ein Gesamtkonzept, das ins nächste und ins übernächste Schuljahr blickt“, fordert auch Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, am Donnerstag im Tagesspiegel.

Notwendiger Lockdown stellt Chancengleichheit infrage

Warum müssen die Kommission der Ebert-Stiftung und der Lehrerverband ein solches Konzept im elften deutschen Pandemie-Monat fordern? Weil es bislang nicht existiert. Was die KMK in ihrem vagen Stufen-Modell vom Frühjahr 2020 angedacht hatte, wurde in den Ländern wegen des langen Festklammerns am Präsenzunterricht nicht umgesetzt. Die Schulschließungen und das erneute Fernlernen seit Mitte Dezember haben die meisten Schulen und ihre vorgesetzten Behörden kalt erwischt.

Auch die Expertenkommission hadert mit dem Schul-Lockdown, indem sie etwa feststellt, dass die getroffenen Maßnahmen zwar erforderlich seien, aber „mit dem Gebot der Chancengleichheit konkurrieren“. Dabei geben die Bildungsforschenden ein eigenes Versäumnis zu: „Für Deutschland ist die empirische Lage über die Auswirkungen der letzten Monate auf die Kompetenzen der Schüler:innen aufgrund mangelnder Daten sehr dünn“, heißt es.

Drei Schülerinnen sitzen an einem Küchentisch vor ihren Laptops und Arbeitsheften und erledigen Schulaufgaben.
Nicht selbstverständlich. Für diese drei Schwestern in Oldenburg (Niedersachsen) scheint das Homeschooling zu funktionieren.

© Hauke-Christian Dittrich/dpa

So bleibt ihnen nur, Studien etwa aus den Niederlanden, Belgien und der Schweiz zu zitieren, nach denen sich bei mehrwöchigen Schulschließungen und Homeschooling für Kinder aus finanziell schwächeren Familien „besondere Nachteile in den Lernleistungen“ zeigen. Für Deutschland ist bislang lediglich festgestellt worden, dass sich in der ersten Phase des Fernlernens die Lernzeit für Schüler und Schüler insgesamt halbiert hat.

Lernverluste sollten umgehend gemessen werden

Auch wenn Analysen in Hamburg „keine grundlegenden Veränderungen in den schulischen Leistungen von Schüler:innenkohorten vor und während der Pandemie“ gezeigt hätten: So ließe sich „noch nicht abschließend beurteilen, ob und in welchem Maß soziale Ungleichheiten in Deutschland zugenommen haben“.

Die Expert:innenkommission fordert deshalb, dass Schulen und Lehrkräften „kurzfristig bewährte diagnostische Instrumente und Assessmentverfahren zur Einschätzung der Lernstände“ - und insbesondere zu Basiskompetenzen - zur Verfügung gestellt werden. Auch dazu ist bislang keine Initiative aus dem Kreis der Schulminister:innen bekannt.

Auf die Frage nach geeigneten Diagnoseinstrumenten, die Schulen ad hoc einsetzen könnten, sagte DIPF-Chef Kai Maaz allerdings, Schulen sollten auf bewährte Instrumente wie Vergleichsarbeiten zurückgreifen. Vorbildlich sei Hamburg, wo der Vera-Tests für die Grundschule zum Analysetool "Kermit" weiterentwickelt wurde. Wichtig für Lehrkräfte seien dann vor allem Informationen und Hilfestellungen, wie unterschiedliche Leistungsstände individuell ausgeglichen werden können.

Um weitere Lernverluste zu vermeiden, schlagen die Bildungsforschenden eine Reihe von Maßnahmen vor – von Laptops und Tablets für alle Schüler, einer leistungsstarken IT-Infrastruktur in den Schulen bis zu verbindlichen Wochen- und Stundenplänen auch im Fern- und Wechselunterricht.

Gerade benachteiligte Kinder und Jugendliche bräuchten eine klare Struktur für das Lernen zu Hause sowie tägliche Kontakte zu pädagogischem Personal, sagte Maaz. Das alles ist bis heute nicht selbstverständlich.

Weniger Lernstoff, spätere Prüfungen

Beim Lernstoff sollten die Länder in diesem und im nächsten Schuljahr inhaltliche Schwerpunkte setzen, also Stoff weglassen. Und Klassenarbeiten: Der Präsenzunterricht, der möglich ist, sollte für das gemeinsame Lernen genutzt werden.

Weitgehende Erleichterungen fordert die Expertengruppe auch für die Abschlussjahrgänge: Die Schulen müssten zum Halbjahresbeginn ermitteln, was die MSA- oder Abiturkandidat:innen tatsächlich gelernt haben - und die Prüfungen entsprechend gestalten, eventuell zeitlich verschieben, und beim Ersten und Mittleren Abschluss bei längeren Schulschließungen auch ausfallen lassen.

Die häufig diskutieren Klassenwiederholungen für zurückgefallene Schüler, sollten „vermieden“ werden, empfiehlt das Gremium. Stattdessen müsse zusätzliche Lernzeit und verbindliche Förderung, auch durch (für die Schüler kostenfreie) außerschulische Angebote organisiert werden. Wie Lehrerverbandschef Meidinger fordern die Experten im Fall von Klassenwiederholungen, dass diese nicht auf die Höchstverweildauer in der Schule angerechnet werden.

„Wir befinden uns in diesem Schuljahr weiterhin in einem Echtzeit-Experiment“, schreiben die Bildungsexperten. Vieles Neues über Covid-19 habe man gelernt, vieles sei aber auch noch ungewiss. In solchen Zeiten zuverlässig zu planen und sich an veränderte Bedingungen anzupassen, sei für die Schulpolitik „eine Herausforderung von bislang einzigartiger Komplexität“.

Ob und wann die KMK ihr gerecht wird, bleibt abzuwarten. Die Empfehlungen aus der Bildungsforschung könnten dafür gute Hinweise geben.

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