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Ankunft von ungarischen Juden in Auschwitz-Birkenau im Juni 1944

© imago/Reinhard Schultz

Editionsprojekt zum NS-Genozid abgeschlossen: Den furchtbaren Alltag des Holocaust dokumentiert

Ein Schriftdenkmal für die verfolgten und ermordeten Juden Europas: Der abschließende Band der Edition VEJ ist Ungarn gewidmet.

Kann man Zeithistorikern dazu gratulieren, die Schrecknisse des nationalsozialistischen Völkermords überaus anschaulich in zeitgenössischen Dokumenten zugänglich gemacht zu haben? Gewiss, insofern mit der nunmehr 16-bändigen Edition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“ (VEJ) nochmals unbekannte Quellen erschlossen werden, ist jeder Zuwachs an historischer Kenntnis ein Gewinn. Dies gilt zumal in einer Zeit, in der die Objektivität historischer Forschung zunehmend in Abrede gestellt wird. Und doch bleibt es eine entsetzliche Lektüre, eine, die man sich lieber nicht antun möchte, wohl aber muss.

Das große Werk der VEJ ist mit dem Erscheinen des Bandes „Ungarn 1944-1945“ abgeschlossen – und damit eines der großen Editionsunternehmen der historischen Wissenschaft. Das Ungarn-Konvolut trägt die Bandzahl 15, als Band 16 erschien schon 2018 die Sammlung über „Das KZ Auschwitz 1942-1945“, den paradigmatischen Kulminationspunkt der unfassbaren Verbrechen der Shoa.

Vor dreizehneinhalb Jahren, Anfang 2008, wurde das Projekt im Jüdischen Museum Berlin vorgestellt. Ein neuer Ansatz wurde gewählt: Dokumente unterschiedlichster Herkunft und Beschaffenheit sollten erschlossen und gleichrangig vorgestellt werden. Die Seiten der Täter und der Opfer, zwischen denen es im Falle des Völkermords nur allergeringste Überschneidungen geben konnte – etwa im Falle der sogenannten „Judenräte“ –, sollten gleichermaßen zu Wort kommen, das Ganze lediglich aufgeteilt nach der Geografie der NS-Herrschaft über Europa, ansonsten in chronologischer Reihenfolge.

Ein aus dem Deportationszug geworfenes letztes Lebenszeichen

Noch das geringste Fragment – vielleicht ein aus dem Deportationszug geworfenes letztes Lebenszeichen – sollte bewahrt werden. Der Anspruch war, mit der Gesamtedition den Opfern des Völkermords ein bleibendes „Schriftdenkmal“ zu setzen.

Das ursprüngliche Herausgebergremium brach zwar bald auseinander, ob nun über diese Grundfrage des Edierens oder über andere, mindere Gründe, ist im Rückblick unerheblich. Doch der Kreis der vier verbliebenen Herausgeber Susanne Heim, Ulrich Herbert, Horst Möller und Dieter Pohl – und mit ihnen die drei institutionellen Auftraggeber Bundesarchiv, Institut für Zeitgeschichte und der Neuzeit-Lehrstuhl der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg – stabilisierte sich mit vier neuen Mitherausgebern und führte das Unternehmen beharrlich fort.

[Lesen Sie auch diesen Artikel: Carl Laszlo (1923 – 2013) wurde im Sommer 1944 als Zwanzigjähriger nach Auschwitz deportiert. Seine Erinnerungen erschienen unlängst in einer Neuedition]

Auch eine letzte Störung durch die gerade abklingende Pandemie konnte den Abschluss nicht mehr ernsthaft gefährden. 16 Bände, jeweils gut 800 Seiten stark und gefüllt mit rund 320 Dokumenten, liegen nun vor. Sie sind ein Muss für jede historische Fachbibliothek und ihrerseits geeignet, Dutzende Regalmeter an Sekundärliteratur überflüssig zu machen, allein durch die Konfrontation mit den erschütternden Primärzeugnissen.

An der Begründung des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit insgesamt vier Millionen Euro geförderten Unternehmens hat sich über die vierzehn Arbeitsjahre hinweg nichts geändert. Hervorzuheben ist der seinerzeit als fünfter genannte Grund.

Darin wird auf die Fülle von Dokumentensammlungen verwiesen, bei denen „je nach Herkunftsland der Herausgeber (…) bestimmte politisch-thematische Schwerpunkte gesetzt“ werden, „in Deutschland die Geschichte der deutschen Juden, in Israel der jüdische Widerstand, in Polen die Hilfsbereitschaft der christlichen Mehrheitsbevölkerung usw.“. Quellen erschienen „oft als Wiederabdruck schon publizierter Dokumente“ und würden „aus dem Kontext gerissen“

In elf Bänden geht es um die deutschen Verbrechen im Ausland

Das zumindst macht die VEJ anders. Naturgemäß ist jeder einzelne Band das Ergebnis einer Auswahl. Die aber zielt darauf, die unterschiedlichen Stimmen gleichberechtigt zu Wort kommen zu lassen und nicht nach der jeweiligen Reichweite eines Dokuments, ob Regierungsdekret oder privater Tagebucheintrag, zu gewichten. Der vielleicht bedeutendste Gesichtspunkt ist aber, dass die Edition elf der 16 Bände dem vom NS-Regime während des Krieges beherrschten Ausland widmet. Damit gerät eines der heikelsten Probleme der europäischen Erinnerungskultur in den Blick.

In Metall gegossene Stiefel stehen an einem Flussufer.
Ein Mahnmal für die Juden, die in der Zeit der deutschen Besatzung in Budapest von ungarischen Pfeilkreuzlern auf Ufer der Donau erschossen wurden.

© Barnabas Honeczy/dpa

Es geht um den Anteil nationaler, regionaler und lokaler Mittäter und Mitläufer, die den zahlenmäßig bisweilen kleinen Funktionseliten von SS, Gestapo und Wehrmachts-Offizierskorps in den jeweiligen Ländern zuarbeiteten. Unter den Dokumenten der VEJ sind sie ebenso zu finden wie die der in die besetzten Länder entsandten NS-Schergen.

Darauf ist gerade im Falle Ungarns hinzuweisen. „Der legislativ geregelte Ausschluss der Juden aus dem gesellschaftlichen Leben Ungarns begann bereits 1920, als die ungarische Regierung das europaweit erste antijüdische Gesetz nach dem Ersten Weltkrieg verabschiedete“, heißt es in der 70-seitigen Einleitung von Band-Bearbeiterin Regina Fritz.

Mit dem deutschen Einmarsch 1944 begann die Vernichtung

Andererseits „bewahrte der Staat die einheimischen Juden bis zur deutschen Besetzung weitgehend vor Deportation und Ermordung“. Erst mit dem deutschen Einmarsch am 19. März 1944 begann die Vernichtung, deren Organisation insbesondere beim „Sondereinsatzkommando“ unter Leitung von Adolf Eichmann lag. Der Holocaust an den ungarischen Juden fand innerhalb weniger Wochen im Frühsommer 1944 statt, als sich die militärische Niederlage des Deutschen Reiches längst abzeichnete.

„Doch schon bald nach ihrer Machtübernahme im Oktober 1944 setzten die Pfeilkreuzler unter Führung von Ferenc Szálasi die Deportationen fort und lieferten dem Deutschen Reich weitere 76 000 Juden aus“, so dass die Gesamtzahl der ermordeten Juden aus ungarisch kontrollierten Gebieten „heute auf über eine halbe Million geschätzt“ wird.

Die Fassade einer frisch renovierten 150 Jahre alten Synagoge in Budapest.
Diese Synagoge in Budapest wurde am 29. Juni 2021 mit dem ersten Gottesdienst seit dem Holocaust wiedereröffnet.

© Peter Kohalmi/AFP

Die Dokumente, die zeitlich 1937/38 einsetzen, zeigen die Radikalisierung der ungarischen Politik lange vor dem Krieg. Im August 1940 ereignet sich dann der große Massenmord im ukrainischen Kamenez-Podolski an 15 000 Juden aus ungarischen Gebieten. Die Schilderung eines Augenzeugen müsste genügen, das in der deutschen Gedenkkultur so gerne bemühte Bild von der „Industrialisierung“ des Holocaust zurechtzurücken: Es handelte sich um barbarische Mordaktionen, flankiert von Grausamkeiten am hunderten Opfern, deren Leichen tagelang im Fluss Dnjestr treiben.

[VEJ Bd. 15: Ungarn 1944-1945. Bearbeitet von Regina Fritz. De Gruyter/Oldenbourg, Berlin 2021. 850 S., je Band 59,95 €.]

Erst im Mai 1944 werden die Deportationszüge mit jeweils 3000 Personen von den ungarischen Behörden organisiert, immer 45 Güterwagen „mit jeweils 70 Personen samt Gepäck“, die Wagen beschriftet mit „deutsche Arbeiter-Umsiedler“. Bis hin zur Kreide für die Markierung führt das im Rathaus einer seinerzeit ungarischen Stadt erhaltene Dokument alle Pflichten auf, die dem Ortsbürgermeister oblagen. Erst an der Grenze zur Slowakei übernahm deutsche Polizei die Züge.

Nach den Deportationen wüten Ende 1944 die „Pfeilkreuzler“ in Budapest

Den Beginn der Deportationen kündigte der frisch ernannte „Bevollmächtigte des Großdeutschen Reiches“, SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer, in einem geheimen Telegramm ans Auswärtige Amt an. Das Zusammentreiben der Juden nennt er „Ghettoisierungsarbeiten“, die Transporte gehen nach „Aufnahmeort Auschwitz“: „Da Judenaktion ein totales Ganzes, halte ich den vorstehenden skizzierten Plan für richtig und bitte um Drahtweisung.“

Nach den Deportationen wüten Ende 1944 die „Pfeilkreuzler“ in Budapest. Eine Augenzeugin notiert zu Weihnachten in ihr Tagebuch, „Juden werden inzwischen auch mitten in der Innenstadt auf der Straße erschossen“. Veesenmayer, dies nebenbei, wurde 1949 als Kriegsverbrecher verurteilt, alsbald begnadigt und lebte bis zu seinem Tod 1977 unbehelligt in Darmstadt.

Sitzungsprotokoll, Diensttelegramm, Tagebuch, sie stehen beispielhaft für die Unterschiedlichkeit der Texte. Dass die Dokumente quellenkritisch zu sichten sind, versteht sich von selbst, es ist das Schwarzbrot der historischen Forschung, ändert aber am Rang des Unternehmens kein Jota. An dem Editionsprinzip der Gleichrangigkeit aller aufgenommenen Schriftquellen ist anfangs heftige Kritik geübt worden. Hans Mommsen, einer der Großen der NS-Forschung, mochte nach Lektüre des allerersten Bandes nahezu kein gutes Haar an der zweifellos gewöhnungsbedürftigen Vorgehensweise lassen.

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Schematische Anordnung der Quellen monierte er, unzureichende inhaltliche Erläuterungen. Überhaupt sei „schwer zu sehen, wie der normale Leser sich darin zurechtfinden soll“. Mommsen verfehlte so gerade die Besonderheit der Edition, eben die Gleichordnung von Täter- und Opferzeugnissen, die Kakophonie der Stimmen, aus denen einerseits nur selten ein umfassend zielgerichtetes Handeln hervorlugt, andererseits die Totalität des Terrors, der quasi durch alle Ritzen dringt, umso beklemmender spürbar wird.

Ein eigenes Problem ist das der Schreibweise, sie folgt den zeittypischen Regeln ebenso wie dem Umgangsgebrauch. Das verbietet jede editorische Glättung: „Die Begriffe Jude, Jüdin, jüdisch werden folglich, den Umständen der Zeit entsprechend, auch für Menschen verwandt, die sich nicht als jüdisch verstanden haben, aber aufgrund der Rassengesetze so definiert wurden und daher der Verfolgung ausgesetzt waren. Begriffe wie ,Mischling’, ,Mischehe’ oder ,Arisierung’, die eigentlich auch Termini technici der Zeit waren, werden dagegen in Anführungszeichen gesetzt.“ Dem Leser wird abverlangt, sich in den zeitgebundenen Sprachgebrauch hineinzufinden. Dennoch versucht die Edition im Gebrauch von Anführunsgzeichen, „wenigstens gelegentlich ein Distanzsignal zu setzen“.

Ein „Distanzsignal“ setzen: Genau das erlaubt die Edition VEJ dem Leser nicht. Sie stellt den Schrecken von Entrechtung, Entmenschlichung und Ermordung ungefiltert vor Augen. „Wir sind heimatlos geworden, uns erwarten furchtbare Tage“, schrieben Vater und Tochter in einem letzten Brief vor der Deportation nach Auschwitz. Der Wahrheit ins Auge zu blicken, ist die große, die bleibende Leistung dieser Edition. Ihr Abschluss ist ein Meilenstein der deutschen Geschichtswissenschaft.

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