zum Hauptinhalt
Der Regenwald am Amazonas könnte sich bei fortschreitender Erwärmung zu einer Savannenlandschaft wandeln. Neben der Erwärmung drängen auch Rodungen und Brände die natürliche Vegetation zurück.

© Xi Yang/University of Virginia

Domino der Kippelemente: Zerfall des Grönlandeises könnte weitere Bestandteile des Erdsystems kippen

Eisschilde, Regenwälder und Meeresströmungen können sich im Klimawandel grundlegend verändern – und andere Kippelemente mitreißen.

Der Vergleich trägt, wenn auch nur begrenzt: Wer auf einem Stuhl kippelt, kann sich entspannt recht weit zurücklehnen. Größere Stabilität ist mit vier Stuhlbeinen auf dem Boden gegeben, aber auch mit nur zweien kann man noch sitzen. Doch wer sich noch weiter nach hinten lehnt, gelangt in eine Lage, in der schon ein kleiner Schubser ausreicht, das Stuhl-Mensch-System in einen neuen Zustand zu überführen: wieder sehr stabil, aber mit dem Rücken auf dem Boden.

Im Klimasystem der Erde, zusammengesetzt aus Wasser, Luft, Land und nicht zuletzt Leben, gibt es Bestandteile, die sich ähnlich verhalten können – wie neue Berechnungen zeigen sogar wie eine ganze Stuhlreihe. Ein Forschungsteam um Nico Wunderling und Ricarda Winkelmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) hat Wechselwirkungen zwischen vier Kippelementen untersucht: dem grönländischen und dem westantarktischen Eisschild, dem Regenwald am Amazonas und dem System von Meeresströmungen im Atlantik.

Anders als Studien einzelner Kippelemente führt die Analyse dieses Netzwerks bis an die Grenze dessen, was mit Simulationsläufen von Computermodellen berechnet werden kann, und teilweise darüber hinaus. Die Modelle sind nicht darauf ausgelegt, Wechselwirkungen zwischen den Kippelementen abzubilden und nicht alle Prozesse sind ausreichend verstanden, um sie in Rechenschritte fassen zu können.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können]

Das Team schätzt im Fachblatt „Earth System Dynamics“ qualitativ ab, wie das Kippen eines Elementes auf die anderen wirkt, was die Veränderungen im Klimasystem bewirken und wie sich das auf das Risiko auswirkt, mit dem weitere Elemente kippen.

„Zusammenfassend kann man sagen, dass es unsere Emissionen von Treibhausgasen sind, die bestimmen, ob und wann kritische Schwellenwerte der Kippelemente überschritten werden“, sagt Ricarda Winkelmann. Zwar könne sich das Kippen über lange Zeiträume erstrecken. Aber bereits in den nächsten Jahren könnte bei der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas so viel Kohlendioxid freigesetzt worden sein, dass künftige Generationen mit diesen Auswirkungen leben müssen. „Es ist wichtig, das zu berücksichtigen“, sagt Winkelmann.

Veränderungen in einer Region der Erde können Folgen für weit entfernte Regionen haben.
Veränderungen in einer Region der Erde können Folgen für weit entfernte Regionen haben.

© Tsp/Rita Böttcher

Kippelement Grönlandeis

Nach der aktuellen Studie hat das grönländische Eis das größte Domino-Potenzial: der Zerfall des Eisschildes würde auch andere Kippelemente destabilisieren. Neue Untersuchungen des kilometerstarken Eispanzers deuten darauf, dass er seinen eigenen Kipppunkt bereits überschritten hat, zumindest teilweise.

Niklas Boers vom PIK und Martin Rypdal von der Arktischen Universität Norwegen haben untersucht, wie sich die Höhe eines westlichen Teils des Eisschildes über die vergangenen 140 Jahre entwickelt hat. Die Höhe ist ein kritischer Wert für eine positive Rückkopplung, die einsetzen und den Eisschwund beschleunigen und auch unumkehrbar machen könnte: Durch Abtauen des Eises und das Abfließen der Gletscher am Rand des Schildes nimmt seine Stärke ab. In tieferen Lagen wirken höhere Temperaturen auf die Eisoberfläche, das Abschmelzen und Abfließen beschleunigt sich. Nur in einem deutlich kühleren Klima könnte der Verlust durch ausreichend neuen Schneefall ausgeglichen werden.

Wo genau der Temperaturschwellenwert für das Grönlandeis liegt ist unklar. „Es gibt weiterhin Unsicherheiten“, sagt Winkelmann. Der völlige Zerfall des Eisschildes würde sich über viele Jahrhunderte erstrecken. Die Auswirkungen wären drastisch: Der Schild hält so viel Wasser, das der Meeresspiegel um sieben Meter ansteigen würde. Doch der Abfluss von Tauwasser und der Anstieg des Meeresspiegels wirkt sich bereits auf andere Kippelemente aus.

Kippelement Westantarktisches Eisschild

Der westantarktische Eisschild könnte unabhängig von seiner Abfluss- und Neuschneebilanz durch das steigende Meerwasser destabilisiert werden. Zum Eisschild gehört Schelfeis, das über das Festland ins Meer hinausragt. Taut es stärker ab, oder bricht als Eisberg ab, wird der Eisring löchrig, der den Abfluss von Gletschereis aus dem Landesinneren bremst.

Gletscher, die in die Amundsen-See münden, verlieren große Eismengen.
Gletscher, die in die Amundsen-See münden, verlieren große Eismengen.

© AFP/NASA/JPL-Caltech/HO

Zudem liegen große Teile der Sohle des Eisschildes unter dem Meeresspiegel. Wenn Meerwasser vom Rand einströmt, würde das den Eisschild weiter destabilisieren. Er ist daher auch das anfälligste Kippelement der aktuellen Studie, das vor allem durch den Eisschwund auf Grönland destabilisiert würde.

Doch auch der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur wirkt sich aus. „Simulationen zeigen, dass wir bereits bei einem Temperaturanstieg von zwei Grad Celsius große Teile des westantarktischen Eisschildes verlieren“, sagt Winkelmann. Dieser Schwellenwert wird selbst dann überschritten, wenn die bislang vorliegenden Ankündigungen der Staaten der Erde eingehalten werden, ihren Ausstoß von Treibhausgasen zu senken.

Kippelement Atlantikzirkulation

Das System von Meeresströmungen im Atlantik, die thermohaline atlantische Umwälzströmung, wird von unterschiedlichen Temperaturen und Salzgehalten des Atlantikwassers in Gang gehalten, vor allem der Tiefenwasserbildung im polaren Nordatlantik. Durch den Zustrom von Schmelzwasser des grönländischen Eisschildes könnte dieser Antrieb ins Stocken geraten und das gesamte Strömungssystem abbremsen.

Wunderling und Winkelmann beschreiben die Eisschilde eher als Auslöser eines Dominoeffekts, das Strömungssystem eher als Überträger von Auswirkungen. Im Südatlantik würde seine Verlangsamung zu einem Wärmestau führen und den Eisverlust in der Westantarktis verstärken. In den Nordatlantik würde weniger Wärme transportiert, was in Europa zu einem merklich kühleren Klima führen könnte. aber die Auswirkungen wären darüber hinaus spürbar: Es ist die einzige in der Netzwerkanalyse gefundene überwiegend stabilisierende Wirkung des Kippens eines Elementes.

„Die Temperaturschwelle für ein Kippen des Grönland-Eisschildes kann bei einer deutlichen Verlangsamung des nordatlantischen Wärmetransports sogar erhöht werden“, sagt Winkelmann. Die Auswirkungen auf das vierte Kippelement, den Amazonas-Regenwald, sind dagegen unklar.

Kippelement Amazonas-Regenwald

Ein großer Teil des Niederschlags im brasilianischen Regenwalds stammt aus dem Atlantik. Verlangsamt sich die Umwälzströmung wird sich das auch auf die Niederschläge auswirken. Aus dichtem Regenwald könnte dann eine offene Savannenlandschaft werden. „Der Wald ist nur an geringe Schwankungen von Temperatur und Trockenheit angepasst“, sagt Julia Green von der Columbia University. In einer kürzlich in „Science Advances“ erschienenen Studie berichtet sie, dass die Photosynthese-Aktivität im Regenwald bei Lufttrockenheit zunimmt. „Meine Analyse beruht aber auf Daten von heute“, sagte die Forscherin dem Tagesspiegel. Nehme die Temperatur und Trockenheit weiter zu, könnte das ihre Ergebnisse durchaus verändern.

Kettenreaktion des Kippens

„Ich bin nicht überrascht, dass wir diese Verbindungen zwischen den Kippelementen sehen“, sagt Green. Im Klimasystem geschehe nichts isoliert von anderen Vorgängen. Die Biologin sieht großen Wert in Forschung, die diese Zusammenhänge untersucht. Einzelne Kippelemente wie den Regenwald zu untersuchen sei deutlich einfacher. „Aber es erzählt nur einen Teil der Geschichte“, so Green.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

„Die wichtigste Aussage der Studie ist, dass die Wechselwirkungen die Kippelemente überwiegend destabilisieren“, sagte Erdsystemforscher Tim Lenton von der britischen Universität Exeter, der maßgeblich an den ersten wissenschaftlichen Arbeiten zur Beschreibung von Kippelementen beteiligt war, dem Tagesspiegel. Der Dominoeffekt enge den Temperaturbereich ein, in dem die Erwärmung noch keine Kipppunkte dieser Elemente erreicht. Weiteren Forschungsbedarf sieht er wie das Autorenteam bei den Prozessen, die die Wechselwirkungen ausmachen.

Zudem gibt es weitere Kippelemente wie den indischen Sommermonsun, das arktische Meereis oder die borealen Wälder im hohen Norden, die in solche Netzwerkanalysen einbezogen werden könnten.

Lenton würde jedoch einen anderen Schwerpunkt setzen, um das Risiko Kippelementen und Kippkaskaden zu begrenzen: „Wir müssen uns darauf konzentrieren, positive Kipppunkte zu finden und auszulösen, die die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft beschleunigen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false