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Symbolbild: Der Konzertsaal der Elbphilharmonie bei der Eröffnung des Gebäudes. Ähnlich voll - und möglichst diszipliniert - könnte es bald überall wieder aussehen.

© Christian Charisius / dpa

„Disziplinierter als bei der Love Parade“: Darum empfehlen Berliner Forscher Klassik-Konzerte vor vollem Haus

Charité-Professor Stephan Willich empfiehlt, Konzerthäuser voll zu besetzen, sein Arbeitgeber distanziert sich davon. Im Interview erklärt sich Willich.

Der Direktor des Charité-Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Stephan Willich, erklärt, warum klassische Konzerte und Opern wieder vor vollem Haus stattfinden könnten. Der Charité-Vorstand hatte zuvor zu einer Stellungnahme, die Willich mit drei weiteren Kollegen des Klinikums verfasst hatte, erklärt, dies entspräche nicht der Position der Charité.

Volle Konzertsäle sollen jetzt vorstellbar sein, obwohl es bislang hieß, dass Massenveranstaltungen nicht möglich sind. Wie kommen Sie zu diesem neuen Schluss?
Zunächst einmal formulieren wir sehr strikte Anweisungen. Zuallererst das korrekte Tragen eines medizinischen Mund-Nasen-Schutzes während der Veranstaltung aber auch im Foyer und in der Pause. Zum anderen muss die Belüftungsanlage in den Räumen ausreichend sein und gegebenenfalls auch gefiltert werden. Dann müssen die üblichen Abstandsregeln eingehalten werden und die Gäste am Eingang noch einmal auf Krankheitssymptome überprüft werden. Außerdem muss die Nachverfolgung der Kontaktpersonen möglich sein, etwa über die Sitzkarten. Und keine Bewirtung der Gäste. Das Entscheidende dabei ist, den Mund-Nasen-Schutz verpflichtend zu machen.
Ist das zumutbar – und sinnvoll?
Wir denken ja. Das Publikum von Klassikveranstaltungen ist ein besonderes, mit einem sehr aufgeklärten Verständnis und diszipliniertem Verhalten. Die Zuhörer sitzen nebeneinander, sie sprechen nicht während der Vorstellung und wir gehen davon aus, dass sie sich auch konsequent an die Verhaltensregeln halten werden. Das ist bei Veranstaltungen wie etwa der Love-Parade nicht vergleichbar.

Gehustet wird dort aber schon.
Der Mund-Nasen-Schutz absorbiert schon sehr viel und es gilt ja auch hier die übliche Hust-Etikette. Es wird auch weiter gehustet werden, und man kann die Viruslast, falls ein Infizierter im Publikum sitzt, auch nicht auf Null absenken, darum ist gute Belüftung so wichtig.

Aber in den Pausen kommen die Besucher doch dann aber wieder zusammen, unterhalten sich, durchmischen sich...
Die üblichen Abstandsregeln gelten natürlich in allen gemeinschaftlich benutzten Flächen, in Foyers, im Kassenbereich, im Garderobenbereich. Auf Konzertpausen sollte möglichst verzichtet werden.

Wie gut ist ihre wissenschaftliche Evidenz, damit die Infektionen nicht steigen?
Im Grunde sind unsere Vorschläge ja gar nicht so ungewöhnlich. In Bahnen und Flugzeugen und im Nahverkehr heißt es: Entweder Abstand halten oder wo das nicht möglich ist: Mund-Nasen-Schutz. So argumentieren wir auch für die Konzertsituation. Die Wirksamkeit des Mund-Nasen-Schutzes ist inzwischen wissenschaftlich gut etabliert, er absorbiert fast die gesamte Viruslast, zu etwa 95 Prozent.

Wenn der Stoff denn richtig getragen wird. Jedenfalls weist eine Untersuchung von Christian Kähler von der Hochschule der Bundeswehr in München darauf hin, dass das meist nicht der Fall ist und in der Praxis doch viel infektiöses Material entweicht. 
Daher betonen wir ja das korrekte Tragen eines medizinischen Mund-Nasen-Schutzes.

Der Vorstand der Charité scheint auf Distanz zu Ihrer Stellungnahme zu gehen und hat betont, dass es sich dabei nicht um die Position der Charité handelt.
Die Charité-Professoren, auch ich, reden nur für ihre Fachgebiete, in diesem Fall Epidemiologie und Sozialmedizin. Ich spreche nicht für die Charité, sondern für mein Fach. Insofern ist es keine Stellungnahme der Charité. Wir beziehen uns darin auf die allgemeine epidemiologische Lage, wir veröffentlichen auch keine Studie oder das Ergebnis einer Bevölkerungsuntersuchung.

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Aber Sie gehen ja ein gewisses Risiko ein, wirklich vorhersagen, wie sich das Virus in der Konzertsituation mit eng sitzendem Publikum entwickeln wird, können Sie ja nicht.
Es gibt durchaus Untersuchungen zur Frage der Übertragungswege, Tröpfcheninfektion und Aerosole. Diese Expertise geht hier mit ein. Daher legen wir ja solchen Wert auf Belüftung und Mund-Nasen-Schutz.
In ihrer anderen Stellungnahme zur Orchesteraufstellung heißt es, dass bei Streichern ein Ein-Meter-Abstand ausreicht, während unsereins, ohne Geige am Kinn, anderthalb Meter Abstand halten soll. Das ist schwer zu verstehen…
Musiker sind, wenn Sie so wollen, noch disziplinierter als Klassikpublikum. Musiker sitzen immer nebeneinander, nicht gegenüber, husten nicht während des Konzerts, und Streicher atmen normal. Deswegen orientieren wir uns an der WHO-Empfehlung, die einen Abstand von einem Meter empfiehlt - nicht 1,5 Metern.

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Warum ist dann eine solche Stellungnahme erst jetzt möglich?

Das ist den aktuellen Entwicklungen geschuldet. Im März und April hatten wir eine erhebliche epidemiologische Belastung. Inzwischen ist die epidemiologische Situation weitgehend stabil, es gibt zudem neue strömungstechnische Untersuchungen, die zeigen, was überhaupt an Aerosolen aus einer Posaune oder anderen Blasinstrumenten herauskommt. Und es gab bislang keine infektiösen Vorfälle in Konzerten. Unsere Stellungnahme entspricht dem, was wir mittlerweile gelernt haben. Es war aber sinnvoll, dass wir anfangs besonders vorsichtig waren, auch in den Schulen.

Sie sprechen die Schulen an. Kann man von ihrer Stellungnahme auf die dortige Situation extrapolieren?
Nein. Das ist eine andere Situation, da wird zum Beispiel viel gesprochen und diskutiert. Und auch für andere Situationen kann man, was wir hier sagen, nicht übertragen.

Sie sind aktiver Musiker, haben sicher auch ein großes Interesse daran, dass Konzerte wieder möglich sind. Haben Sie sich deshalb mit diesem Bereich beschäftigt, nicht etwa mit Schulen oder Arbeitsplätzen?
Meine zusätzlichen Erfahrungen im Musikbereich helfen, die Situation zu verstehen und einzuschätzen. Aber ich spreche hier als Epidemiologe und Sozialmediziner.

Das Interview führte Sascha Karberg.

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