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Grundschüler sitzen in einem Klassenraum an Einzeltischen, ihre Lehrerin erklärt etwas an der Schiefertafel.

© Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/ZB

Diskussion über digitalen Unterricht: "Wir sind in einem riesigen Lernprozess"

Die schrittweise Öffnung der Schulen geht voran. Was nach dem Sommer vom digitalen Lernen bleibt, diskutierte Pisa-Papst Schleicher mit Bildungsexpertinnen.

Seit Mitte März sind 1,7 Milliarden Schülerinnen und Schüler weltweit von Schulschließungen betroffen. Fernunterricht ist eine Notlösung, weil er nicht die soziale Funktion von Schule erfüllt. Fehlender Zugang zu den Online-Angeboten und die teilweise mangelhafte Qualität der Online-Angebote verstärken die Bildungsungleichheit.

So bilanzierte "Pisa-Papst" Andreas Schleicher, der Direktor der Bildungsdirektion der OECD in Paris, am Donnerstagabend den schulischen Ausnahmezustand in der Corona-Krise. In einem Webinar des OECD-Centers Berlin und der Konrad-Adenauer-Stiftung sprach sich Schleicher ganz klar für umfassende, schnellstmögliche Schulöffnungen aus, die so viele Schülerinnen und Schüler wie möglich erreichen.

Die Risikoverringerung durch die Schulschließungen sei relativ klein, behauptet Schleicher. Es gebe einen Eindämmungseffekt, "aber der ist begrenzt". Und empfiehlt, was in Deutschland die von den Kultusministern empfohlene schrittweise Öffnung der Schulen "in Abhängigkeit vom Infektionsgeschehen" momentan bereits vorantreibt: Man dürfe dabei die sozialen Kosten nicht aus den Augen verlieren.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Die ihrer Sozialkontakte beraubten Kinder und die abgehängten, benachteiligten Schülerinnen und Schüler spielen in der Diskussion zwischen Schleicher, der Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Karin Prien (CDU), und der Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbands, Susanne Lin-Klitzing, dann nur noch eine Nebenrolle.

Was den Politik- und Schulpraktikerinnen unter den Nägel brennt, ist vielmehr der Innovationsschub, den die zwangsweise Digitalisierung des Lernens in die Schulen und in die Lehrerschaft bringt. "Wir sind in einem riesigen Lernprozess", sagt Karin Prien. Schleswig-Holstein sei jetzt "bei der Pilotierung einer Schul-Cloud", das Landesinstitut für Lehrerbildung biete zahlreiche neue Fortbildungen in Webinaren an. Die Folge sei "eine immense Lernkurve".

Nicht die Lust zur Weiterbildung fehlt, sondern passgenaue Angebote

Zuvor hatte Andreas Schleicher die mangelnden Fortbildungsangebote aber auch die im internationalen Vergleich geringer ausgeprägte Lernbereitschaft der Lehrkräfte kritisiert. Eine Verweigerungshaltung sieht Prien vor allem bei den älteren Pädagogen, die gegenüber den neuen digitalen Formaten fremdeln.

Aus der Sicht von Susanne Lin-Klitzing mangelt es nicht an der Lust auf Fortbildungen, sondern an den passgenauen Angeboten etwa für den Einsatz digitaler Unterrichtsmedien. "Stricken lernen geht schlecht ohne Wolle", hält sie der Kritik entgegen. Lehrkräfte bräuchten endlich durchgehend, was eigentlich selbstverständlich sein müsste: Dienst-Computer, Dienst-E-Mails - und Klassensätze von digitalen Leihgeräten, "damit man unisono auf einer Hard- und Software arbeiten kann".

Zu Beginn der Schulschließungen fehlte den meisten Schulen Grundsätzliches - schnelles W-Lan, Lernplattformen und Konferenzplattformen, die E-Mail-Adressen der Schüler -, um mit dem Distanzunterricht loslegen zu können. Zwei Vorteile sieht Lin-Klitzing in der coronabedingten Krise: Lief der Digitalpakt nur schleppend an, weil man nicht wusste, was den einzelnen Schulen genau fehlt, wisse man jetzt welche schlecht und welche gut ausgestattet sind.

Berichte zu Schulschließungen und Homeschooling

"Darum kann sich jetzt bis zum neuen Schuljahr gekümmert werden", sagt Lin-Klitzing zuversichtlich. Was den Schülern fehle, die im Homeschooling bislang nicht von ihren Lehrkräften erreicht werden, "muss im neuen Schuljahr kompensiert werden - aber nach genauer Diagnose". Das klingt ein bisschen so, als gebe die Vorsitzende des Philologenverbands das laufende Schuljahr innerlich schon verloren.

Lernende aus dem 21. Jahrhundert, Lehrkräfte aus dem 20. Jahrhundert

OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher will der deutschen Bildungspolitik noch eine grundsätzlich Botschaft mitgeben: Derzeit offenbare sich einmal mehr, dass Deutschland "Lernende und Technik des 21. Jahrhunderts, Unterrichtskonzepte und Lehrkräfte aus dem 20. Jahrhundert und eine Arbeitsorganisation in den Schulen aus dem 19. Jahrhundert habe".

So zitiert Schleicher aus aktuellen OECD-Umfragen, nach denen Lehrkräfte hierzulande gar nicht ausreichend Zeit haben, um den Unterricht mit digitalen Angeboten vorzubereiten. Das Unterrichtsdeputat sei zu hoch. Bei einer längeren Wochenarbeitszeit würden etwa Lehrerinnen und Lehrer in Korea wesentlich kürzer vor der Klasse stehen als Kollegen in Deutschland. Dafür hätten sie aber sehr viel mehr Zeit für die Vorbereitung - und für die Teilnahme an Bildungsstudien.

Karin Prien würde den Lehrkräften gerne die Zeit dafür geben, allein, es fehle an Geld und dem nötigen Lehrernachwuchs, um die Schulen entsprechend personell auszustatten.

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Und doch biete die Corona-Krise Unterrichtenden und Lernenden auch Chancen, neue Wege zu gehen: Den Abschied vom Doppelstundenformat für eigenverantwortliches Lernen und effizientere Lernstrukturen zu nutzen oder aus dem digital gestützten Lernen Diagnosedaten über die einzelnen Schüler zu gewinnen.

Einspruch: Infektionsgeschehen unter Schüler nicht genug erforscht

Bei einem waren sich Schleicher, Lin-Klitzing und Prien vollkommen einig: Die Diskussionen um Schulschließungen und Schulöffnungen offenbarten "eine große Wertschätzung für die Schule als Lebens- und Lernort", wie Karin Prien resümierte. "Die Menschen wissen jetzt , dass Schule ein unglaublich wichtiger Bestandteil der Gesellschaft ist." Auch wenn noch lange nicht alles rund läuft.

Eine Aussage von Andreas Schleicher wollte Prien aber nicht stehenlassen: Das Infektionsgeschehen unter Schülern sei noch nicht gut genug erforscht, um Entwarnung zu geben.

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