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Datenwissen statt raten müssen. Die erste Digitalisierung der Medizin begann, als Digitalis-Präparate als Herzmittel entdeckt wurden. Damals verließen sich Ärzte bei Therapie-Enscheidungen auf Puls, Temperatur und dergleichen. Heute ist das anders.

© metamorworks/Getty Images/iStockphoto

Digitalisierung: Der digitale Patient: Was Berlin von Australien lernen kann

In Australien werden Gesundheitsdaten künftig in ein Netzwerk gespeist. Michael Müller hat sich das System bei seinem Besuch angeschaut.

Es klingt für deutsche Ohren wie Science-Fiction: Am andern Ende der Welt soll noch in diesem Jahr jeder Bürger ans digitale Gesundheitsnetz angeschlossen sein. Australien führt die Datenspende ein, so wie Deutschland die Organspende auf neue rechtliche Füße stellen will: Wer nicht widerspricht, ist automatisch dabei.

"My Health Record" - alle Infos über Krankheiten, Operationen, Allergien und mehr

Bei der Digitalen Gesundheitsagentur (ADHA) in Canberra hat sich Michael Müller bei seiner letzten Reise als Bundesratspräsident das Konzept in dieser Woche angeschaut. Passend zur Ankündigung der Pläne von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich der SPD-Politiker in Down Under schlau gemacht. Sämtliche Gesundheitsdaten eines Patienten – Krankheiten, Operationen, Medikamente, Blutbild, Röntgenbilder, Allergien – sollen dort digital in einer in Echtzeit verfügbaren Patientenakte namens „My Health Record“ verfügbar sein. Und die Australier zimmern auch schon ein globales Netzwerk für diese Daten. 23 Staaten sind bereits mit an Bord. Das wünschen sich viele deutsche Mediziner auch.

Müller, der sein mit diesem Monat endendes Bundesratsjahr unter den Titel „Digital und sozial“ gestellt hatte, würde das auch gefallen. Das mache das Leben der Patienten leichter. Und schließlich solle in Australien jeder Bürger „Herr seiner Daten“ bleiben und jederzeit selbst entscheiden, ob er Dokumente sperrt, resümiert Müller nächtens auf dem Rückflug nach Berlin im bequemen Regierungsflieger „Theodor Heuss“, der ihm als viertem Mann im Staate für diese Reise zur Verfügung steht. Im kleinen, aber digitalen Vorreiterland Estland hat sich der SPD-Politiker solch ein System auch schon einmal angeguckt.

Mit zwei Zugangscodes habe der Patient dort unter Kontrolle, was Arzt oder Krankenhaus zu sehen bekämen. In Australien soll es ähnlich gehen, mit seinen rund 25 Millionen Einwohnern ist das Land in Müllers Augen ein prima Partner. Beim ADHA rühmen sie sich, Australien habe das beste Gesundheitssystem der Welt.

Der Nutzen steht im Vordergrund

Fragen nach einem möglichen Missbrauch von Daten oder Folgen von Hackerangriffen auf die sensiblen Informationen empfindet Müller als lästige Mäkelei. „Wir sollten nicht von Anfang an die Bedenken in den Vordergrund stellen, sondern den Nutzen.“ In Australien, das Deutschland doch ähnlich sei, habe das auch funktioniert, „ohne dass es zum Volksaufstand gekommen ist“. Dass die Gesprächspartner der Frage danach, wo all die Daten denn gespeichert würden, ausgewichen sind, spielt für ihn offenbar keine Rolle. Wenn man sich anschaue, mit wem die Australier zusammenarbeiteten, unter anderem Indien, Japan und sogar der Ukraine, dann müsse man sich irgendwann auch mal fragen: „Warum nicht mit uns?“

Aber das ist ja nationale Politik, die er als Bundesratspräsident gerade erst einmal wieder verlässt. Mitmischen will er bei dem Thema dort aber weiter, mit Blick auf Spahns Zukunftspläne. Da will Müller schnell andocken: „Wir bieten uns als Modellregion für die digitale Gesundheit an.“

Schließlich sei die Stadt mit guten Häusern, klugen Köpfen, dem wissenschaftlichen und dem digitalen Umfeld mit Start-ups und dem Deutschen Internet Institut „hervorragend aufgestellt“ und fange „nicht erst morgen an, Leitungen zu verlegen und neue Computer zu kaufen“.

Charité und Vivantes werden "durchdigitalisiert"

Als Regierender Bürgermeister will er in Berlin die Digitalisierung in der Gesundheit erst einmal an zwei Häusern vorantreiben: bei der Charité und Vivantes. In Berlin kann er Vorgaben machen, denn hier sind mehr als die Hälfte der Klinikbetten in öffentlicher Hand, in anderen Bundesländern sind 70 bis 80 Prozent privatisiert.

„Da haben wir Instrumente und Durchgriffsrechte.“ Beide Unternehmen müssten mit den gleichen Systemen arbeiten und durchdigitalisiert werden, „damit der Patient nicht mehr mit irgendwelchen Briefen oder CD-Roms“ zwischen den Ärzten hin- und hergeschickt werde. Der Verbund der zwei „tollen Häuser“ wäre schon „ein Riesenfortschritt“, sagt Müller. „Wir werden nicht mehr zulassen, dass jedes Haus das anders macht.“ Müller ist überzeugt: „Das zieht andere nach.“

Dabei geht es nach Müllers Worten nicht darum, „Ressourcen zu heben, um Geld zu sparen“, vielmehr werde das „viel Geld kosten“. Sinnvoll sei es aber, weil es am Ende den Patienten entlaste.

Müller denkt auch schon an das Zusammenspiel mit anderen Bundesländern, das Patienten nutzen könnte. In Canberra sagen sie, mit den bisherigen Daten von rund sechs Millionen Bürgern hätten sie herausgefunden, dass 220 000 Patienten im Jahr unnötigerweise ins Krankenhaus gekommen seien, weil es keinen Zugriff auf ihre Vorgeschichte gab und man mindestens 20 Prozent an Doppeluntersuchungen einsparen könnte. Auch die Forscher wären heilfroh, könnten sie mit diesen Daten arbeiten. In Australien habe er gesehen, dass es geht, sagt Müller.

Kein Datum für die Digitalisierungsziele

Zu konkret will der Regierende dann aber doch nicht werden. Während Staatssekretär Steffen Krach passend zum Namen der Berliner Kommission „Gesundheitsstadt 2030“ dieses Jahr ins Visier nehmen will, legt sich der Chef nicht fest, wann sein Projekt umgesetzt sein wird: „Das ist nichts für ein, zwei Jahre.“ Und die Finanzierung? Im Investitionsplan seien Mittel vorgesehen, lässt es Müller auch dabei im Ungefähren. „Ob der Bund zahlt, ist nicht das Entscheidende.“ Wichtig sei, „ob wir den Rechtsrahmen und die notwendigen Verabredungen mit den Krankenkassen bekommen“.

In Deutschland werden noch viel zu viele Untersuchungen doppelt gemacht

Viele Mediziner sind der festen Überzeugung, dass es mit der Digitalisierung der Gesundheit schnell vorangehen muss. So wie der Göttinger Professor Heyo Kroemer, der unter Karl Lauterbach Vize in der Kommission „Gesundheitsstadt 2030“ ist. Vor allem aber gilt er auch als Nachfolger des scheidenden Charitéchefs Karl Max Einhäupl. In Australien war er mit von der Partie.

„Wir werden gar nicht anders können, als die Informationen zu digitalisieren“, ist Kroemer sicher. „Allein wenn wir uns die Demografie angucken.“ Bald würden rund 30 Prozent Kräfte in pflegenden Bereichen fehlen, die könne man nicht alle über Einwanderung ausgleichen.

Er scheint Feuer und Flamme zu sein für die Idee einer immer und überall verfügbaren Patientenakte. Dass Patienten im australischen Modell Dokumente gezielt sperren können, behagt ihm weniger. „Was ist, wenn genau diese Untersuchung für die Behandlung wichtig ist?“

Ein Arzt will immer alles von seinen Patienten wissen. Ihn stört, dass in Deutschland wegen fehlender oder schlechter Daten noch viel zu viele Untersuchungen doppelt gemacht würden. In Australien sperre allerdings kaum jemand seine Daten, habe er in Canberra gehört.

Wenn man Kroemer zuhört, könnte man meinen, er plant schon kräftig am digitalen Modell, bei dem er als Chef des größten Uniklinikums Europas wohl auch über Berlin hinaus eine zentrale Rolle spielen könnte. Der zurückhaltend wie unaufgeregt auftretende Mediziner hat keine Scheu vor langfristigen Plänen, wie er in Greifswald und Göttingen mit großen Klinikneubauten gezeigt hat.

Aber er schätzt auch Flexibilität und mag nicht zu enge Fesseln. Ob in der Hauptstadt bald auch ein neues Superkrankenhaus geplant wird? In Adelaide haben sich die Australier eine Klinik für vier Milliarden australische Dollar hingestellt, wie die deutsche Botschafterin Anna Prinz beeindruckt erzählt.

Berlin ist das ideale Testfeld für eine Gesundheitsdatenbank

Auch Kroemer sieht in Berlin ein ideales Testfeld, um eine Gesundheitsdatenbank für Patienten aufzubauen, und verweist wie Müller auf die gut 50 Prozent der Klinikbetten in öffentlicher Hand. Die elektronische Gesundheitskarte, in deren Entwicklung bereits zwei Milliarden Euro geflossen sind, ist seiner Meinung nach auch daran gescheitert, dass sie über die niedergelassenen Ärzte eingeführt werden sollte, die womöglich weniger Interesse daran hätten, ihre Datenschätze mit anderen zu teilen.

Auf der Reise nach Australien gab es viele Möglichkeiten, sich schon mal mit anderen Playern aus Berlin zu vernetzen. Vivantes-Chefin Andrea Grebe gehörte ebenso zu Müllers Delegation wie der Chef der Investitionsbank Berlin, Jürgen Allerkamp, und der unermüdlich für eine stärkere Digitalisierung und Zusammenarbeit mit Australien trommelnde Orthopäde Michael Schütz, der gerade wieder von der Charité dorthin wechselt.

Tatsächlich unterzeichnete Müller in Brisbane eine Kooperation mit Queensland. Der Bundesstaat hat schon allein wegen seiner großen Distanzen zwischen einzelnen Städten früh mit der Digitalisierung begonnen. Bis 2030 will es das Land mit den gesündesten Menschen der Welt sein.

Die Vereinbarung mit Berlin soll sicherstellen, dass die Zusammenarbeit auch jenseits der aktuellen Regierung oder direkter Kontakte zwischen Professoren weitergeht. Damit das Papier mit Leben gefüllt wird, müssen in den nächsten sechs bis neun Monaten gemeinsam sinnvolle Projekte zusammengetragen werden, sagt Schütz. Wichtig sei dabei auch, dass der Beruf von Krankenschwestern und Pflegern endlich akademisiert und die „Allied Health“ wie Physiotherapeuten und Diätassistenten einbezogen würden. Für Schütz ist es „hanebüchen“, dass es das in Deutschland nicht gibt.

Laborwerte nicht mehr auf Zetteln sondern per Bluetooth ins Netz

Die Erfahrungen aus Queensland zeigten zum Beispiel, dass es Leben retten könne, wenn Laborwerte nicht mehr auf Zetteln vermerkt, sondern direkt per Bluetooth eingelesen würden und es bei alarmierenden Werten sofort eine Rückmeldung gebe. Vergleiche von Patientendaten könnten Druckgeschwüre verhindern und so vier bis fünf Krankenhaustage zu je 800 Euro einsparen, rechnet Schütz vor. Insgesamt könnten „die beiden Systeme viel mehr voneinander lernen“. Das Schlimmste für Schütz wäre: Papier und Digitalisierung gleichzeitig zu nutzen. Das wäre „grottenmäßiger Schwachsinn“.

Den Gesundheitssektor zu digitalisieren, werde „zehn bis 15 Jahre kosten“, sagt Schütz. Darum sei es sinnvoll, von denen zu lernen, die schon weiter seien. Er hofft, gemeinsam mit Heyo Kroemer, dass es nach dem Besuch in Australien und den Ankündigungen des Regierenden Bürgermeisters nun mit der Digitalisierung Berlins vorangeht.

Und vielleicht wird Michael Müller ja sogar der erste gläserne Patient der Stadt? Er lacht und sagt: „Ich bin da nicht besonders ängstlich.“ Die dicke Erkältung, mit der Müller sich eine Woche durch Australien geschnieft hat, hätte ihm die digitale Akte aber wohl auch nicht erspart.

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