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Unter einer nachgebauten Museumskuppel sitzen Jugendliche in einem Malworkshop.

© Juliane Eirich/Staatliche Museen zu Berlin

Digitales Lernen in der Schule: Best Practice geht auch ohne Digitalisierung

Die Berliner "Leitkonferenz für gute Schule in der Digitalisierung" ist gut für Überraschungen. Manches geht analog besser - und auf das Netz ist kein Verlass.

Neulich haben Lehrer und Schüler der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe eine neue Sitzordnung ausprobiert. In der Gesamtkonferenz der Schule bildeten sie zwei Kreise. Einen Innenkreis mit den Experten, ein großer außen herum mit dem Publikum.

Das Besondere: Diesmal saßen die Schülerinnen und Schüler in der Mitte – als die Experten und Betroffenen des Lernens. Und draußen nahmen die Lehrer Platz. Wenn sie was sagen wollten, setzten sie sich auf den freien Stuhl in der Mitte – und räumten den Platz wieder, sobald sie fertig waren.

Das ist eine schöne Geschichte darüber, wie sich die Rollen von Lehrkräften und Lernenden ändern: zu Lernbegleitern die Pädagogen, zu gleichwürdigen Lernpartnern die Schüler. Es ist aber auch eine Geschichte, die erzählt, wie vielfältig eine digitale Schule sein kann – und wie „postdigital“.

Micha Pallesche, der Leiter der oft ausgezeichneten Ernst-Reuter-Schule, erzählte diese Episode auf der „Konferenz Bildung und Digitalisierung“. Sie will – so das Selbstverständnis – „die Leitkonferenz für gute Schule in der digitalen Welt im deutschsprachigen Raum“ sein, veranstaltet und getragen ist sie von acht Bildungsstiftungen, von Bertelsmann bis Telekom (zum Portal des Forums geht es hier).

Ein neues "Mindset", ob digital oder nicht

Nur ging es in der Geschichte von Pallesche gar nicht um digitale Technik wie Tablets, Schulclouds oder W-Lan. Sondern um ein anderes Verhältnis von Lehrern zu Schülern. Ein neues „Mindset“, also eine andere Haltung zu Schule, war auf der zweitägigen Konferenz war – fast immer im Zusammenhang mit der Digitalisierung - einer der am meisten genutzten Anglizismen.

Eine Schülerin bearbeitet eine Deutschaufgabe an einem Tablet.
Deutschunterricht mit Hilfe von Tablets an einer Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg.

© Marijan Murat/picture alliance/dpa

Die Konferenz Bildung und Digitalisierung war diesmal noch wichtiger als sonst, steht doch die teilweise Schließung der Schulen in der Republik in der kommenden Woche auf Wiedervorlage. Immer mehr Schüler und Lehrer infizieren sich. Die Bundeskanzlerin hat klar gemacht, dass man nicht weiter warten dürfe, ehe man Schulen teilt und Klassen in den Hybridunterricht schickt. Das bedeutet, dass digitale Lernmittel wie Videostreams, Endgeräte und Lernmanagementsysteme bald wieder essentiell sein könnten.

[Um Kinder längere Zeit zuhause zu unterrichten, fehlt die Ausstattung. Konzerne wollen helfen – und daran mitverdienen. Den Artikel darüber von Christian Füller finden Sie in unserem Tagesspiegel Plus-Angebot]

So spannend viele Beiträge der Konferenz waren, so niederschmetternd fiel das Ergebnis für die Online-Performance des „Forums Bildung Digitalisierung“ und die sie tragenden Stiftungen der deutschen Tech- und Medienriesen wie Bosch, Bertelsmann, Siemens und Telekom aus.

Digitale Unfähigkeit

Wie bereits im vergangenen Jahr gab es teils massive technische Probleme. Das Netz fiel bei der Konferenz mehrfach aus. Am ersten Konferenztag gab es Beschwerden darüber, dass einzelne kleine Veranstaltungen überbucht seien. „Wir arbeiten daran, die Kapazitäten zu erhöhen“, teilte das Forum mit. Am zweiten Tag fiel sogar der Stream des Hauptpodiums zur besten Sendezeit aus.

Wie glaubwürdig kann ein Forum der großen deutschen Stiftungen sein, die Staat und Kultusminister gern für ihre digitale Unfähigkeit kritisieren, wenn sie selbst keine wackelfreie Konferenz gestalten können? Nachfragen bei der einflussreichen Bertelsmann-Stiftung, die als Motor des Forums gilt, blieben unbeantwortet.

Viele Teilnehmerinnen waren irritiert von Technikproblemen und Restriktionen, etwa Reinhild Hugenroth von der Gesellschaft für Demokratiepädagogik. „Es gibt doch mittlerweile virtuelle Tagungshäuser, deren Stream nicht ständig ausfällt“, sagte sie. „Da gibt es keine Teilnahmebegrenzung. Warum auch?“

Eine Lehrerin schreibt Mathematikaufgaben an eine interaktive Tafel.
Aktive Tafel. Die Karlsruher Ernst-Reuter-Schule gilt auch bei der Digitalisierung als vorbildlich.

© Uli Deck/picture alliance/dpa

Angesichts solcher technischen Probleme war es wohltuend, Micha Pallesche von der Reuter-Schule im Gespräch mit Uta Hauck-Thum, Professorin für Grundschulpädagogik und Digitalisierung an der der LMU München, zu hören. Sie überhöhten das Digitale nicht und betonten stets, dass Technik allein nicht reicht, um Bildung zu verändern.

Bei vielen anderen Podien hingegen wurde entweder gejubelt – oder geschimpft. Gejubelt meist über die sensationellen Möglichkeiten der digitalen Bildung. Geschimpft über das vermaledeite Schulsystem der Länder, das unfähig sei, digitales Lernen zu organisieren.

Den Vogel schoss dabei die Staatsministerin im Kanzleramt und Digitalbeauftragte der Bundesregierung ab, Dorothee Bär (CSU). „Freut mich, dass ich endlich wieder über mein Lieblingsthema reden kann“, sprudelte Bär ohne Punkt und Komma los. Und sagte, dass es nicht etwa nur um ein bisschen Digitalisierung gehe, „sondern um ein neues Bildungssystem“.

Ruckelfreies Lernmanagement-System aus Kaiserslautern

Gut, dass die Konferenz der Kultusminister nicht zugegen war. Sie hätte Bär daran erinnert, wer laut Grundgesetz für Schulen und Bildung zuständig ist. Das Kanzleramt, wo Bär ihren Digital-Dienst leistet, ist es nicht.

Über das, wozu sie eingeladen war, nämlich über Bildungsgerechtigkeit nachzudenken, sagte Bär praktisch nichts. Das störte aber nicht lange, weil es rund um das Hauptpodium herum so viele spannende Beiträge gab, dass man die Staatsministerin schnell vergessen hatte.

[Lesen Sie auch unseren Bericht über Lernverluste in der Zeit des Homeschoolings]

Die Musik machten mitten in der Pandemie nicht die großen Stiftungen, die Minister und die Lobbyisten, sondern die guten Beispiele aus der ganzen Bildungsrepublik: Die TU Kaiserslautern stellte ein ruckelfreies Lernmanagementsystem vor, bei dem Schüler online kollaborativ, also in Echtzeit im selben Dokument zusammenarbeiten können.

Schüler*innen als Designer und Denkerinnen annehmen

Zwei Schulen zeigten, wie das so genannte „Design Thinking“ eine ganze Schule verändern kann. Dabei arbeiten Gruppen mit gleichberechtigten Mitgliedern an Lösungen für konkrete Probleme. Das heißt, die Haltung von Lehrern ist eine andere, wenn sie die Schüler*innen als Designer und Denkerinnen annehmen.

In einer Veranstaltung berichteten Schulträger, wie sie in Kooperation mit ihren Schulen die Mediennutzungspläne (MNP) erstellen. Das war sehr praxisorientiert, denn ohne Medienplan kann eine Schule kein didaktisch-technisches Konzept vorweisen – und bekommt auch kein Geld aus dem Digitalpakt.

Sandra Scheeres im Gespräch mit Schülerinnen, die an einem Programmier-Workshop teilnehmen.
Schülerinnen programmieren, hier im Berliner „Coding Hub“ - mit Bildungssenatorin Sandra Scheeres.

© Mike Wolff

Es war dann erneut die Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule, die ein neues konkretes Format vorstellte, das auf den ersten Blick nur wenig mit Bildung und noch weniger mit Digitalisierung zu tun hat: das Ideenbüro. Es entstand auf Initiative der Schüler und veränderte die Schule – indem es sie öffnete.

Das Ideenbüro ist eine Art schulisches Bürgerbüro, das auch für Besucher aus dem Umfeld offen ist. Schnell machten ältere Damen und Herren aus der Umgebung in Karlsruhe dem Büro im Gartenhaus ihre Aufwartung – etwa, indem sie sich von den Schülern erklären ließen, wie ein Tablet funktioniert. Inzwischen organisiert das Ideenbüro Besuche von Schülern in Altenheimen.

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Es wirkt aber auch nach innen: Im Ideenbüro heckten Schüler die Pläne für das Gartenhaus des Schule aus, in dem sich ein „Maker Space“ mit digitalen Instrumenten wie 3-D-Druckern, Schnittstudio oder Quadrocoptern befindet. Aber die Schüler wollten auch einen „Reading Space“, sprich eine Bibliothek, im Gartenhaus haben.

Saraya Gomis: Digitalisierung ist kein Allheilmittel

Die Öffnung der Schule – das war bei der Konferenz an vielen Stellen Thema. Uta Hauck-Thum betonte, Schule bleibe auch „in der Kultur der Digitalität“ ein Lernort – aber eben nicht mehr der alleinige. Hauck-Thum konzeptioniert und öffnet gerade die Münchener Grundschule am Bauhausplatz.

Die ehemalige Antidiskriminierungsbeauftragte der Berliner Schulen, Saraya Gomis, wiederum sagte, „dass die Öffnung von Schule nicht so stattfindet, wie es sein sollte“. Gomis plädierte dafür, dass Schule offen sein muss für Lernende jeder Herkunft – ohne Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund oder Handicaps. Sie bemerkte auch, Digitalisierung sei kein Allheilmittel. Das Gegenteil sei oft der Fall, etwa wenn Algorithmen schwarze Menschen diskriminieren.

Gomis formulierte damit eine These, die konträr zu der Vorstellung von Dorothee Bär stand. Staatsministerin Bär sagt, digitale Tools schaffen mehr Chancengerechtigkeit. Gomis sagt: „Digitalisierung kann die grundsätzlichen Probleme von Bildungsgerechtigkeit nicht lösen.“

Gomis verlieh so der ganzen Konferenz eine andere Note. Dort gehört es scheinbar zum guten Ton, sich über die Fehler der „alten“ Schule lustig zu machen. Moderatorin Geraldine de Bastion etwa gluckste geradezu vor Freude, wenn sie wieder ein absurdes Beispiel aus der Berliner oder einer anderen Kultusbürokratie vortragen konnte.

Die Schulen haben indes echte, konkrete Not. „Ich habe gerade zehn Prozent meiner Lehrer in Quarantäne schicken müssen“, berichtete Caroline Treier von der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ). Allerdings hat Treiers Schule viel Erfahrung mit selbständigen Schülern, es gehörte schon lange vor der Überhöhung der digitalen Bildung zur Tradition der ESBZ, dass Schüler Verantwortung übernehmen.

Inzwischen tun sie es nicht nur für ihr eigenes Lernen, sondern auch für ihre Schule. Als zwei Lehrkräfte jüngst krank wurden, die einen Programmierworkshop vorbereitet hatten, übernahm kurzerhand die Schüler. Treier ist beeindruckt: „Zwei Schüler aus der Oberstufe haben den einwöchigen Workshop übernommen, 16 haben mitgemacht. Solche Kompetenzen haben nur wenige Lehrer.“

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