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Match! Tinder ist heute Inbegriff des Online-Datings. Doch bereits in den 1960er Jahren übernahmen neue computergestützte Anbieter in den USA und Westeuropa die Partnervermittlung von vormals gewerblichen oder kirchlichen Eheanbahnungsinstituten.

© Getty Images/iStockphoto

Digitales Dating: Algorithmus der Liebe

Elektronisches Dating gab es schon lange vor dem Internet. Unser Gastautor erzählt die Kulturgeschichte der Partnerschaftsvermittlung.

Für Jim Harvey und Phil Fialer begann alles aus einer Partylaune heraus. Als die beiden Elektroingenieure Ende der 1950er-Jahre an der Stanford University einen Kurs zur „Theorie und Praxis von Rechenmaschinen“ belegten, hatte das campusweite Rechenzentrum gerade einen Großrechner erworben, einen IBM 650.1. Die „Elektronengehirne“ dieser Jahre waren riesige Apparate, groß wie Busse, mit tausenden Lochkarten als Datenspeicher.

Für Harvey und Fialer war der Kurs eine willkommene Abwechslung im Studienalltag. Nicht ohne Hintersinn schrieben sie daher zum Jahreswechsel 1960 ihre Abschlussarbeiten über den Großrechner als ideales Werkzeug, „einsame Herzen“ zu verbinden.

Ihr Dating-Programm nannten sie – im moralischen Ton dieser Zeit – vorsichtshalber „Happy Families Planning Service“. Sie organisierten eine Party, zu der sie eine Gruppe von knapp 50 männlichen und ebenso vielen weiblichen Freunden einluden, die der Computer verkuppeln sollte.

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Psychogramme der Probanden

Unter den Gästen hatten sie Fragebögen verteilt, mit deren Hilfe sie Psychogramme der Probanden entwarfen: Wer wählte Demokraten, wer Republikaner? Wer bezeichnete sich als religiös? Wer rauchte, trank Alkohol, und wer übte welche Hobbys aus? Auf dieser Grundlage erfolgte die Zuordnung der Paare.

Der Algorithmus steckte allerdings noch in den Kinderschuhen. So kam es zu einigen wenig glücklichen Paarungen. Die Idee aber, die in diesen Jahren „in der Luft“ lag, zündete. Kurz zuvor waren die ersten Computer-Dating-Agenturen entstanden. Das elektronische Dating, das an den Colleges der amerikanischen West- und Ostküste in der Folge immer populärer wurde, verlor so rasch seinen experimentellen Charakter.

Bis Mitte der 1960er-Jahre rissen kommerzielle Anbieter in den USA und in Westeuropa die lukrativen Märkte der elektronischen Partnervermittlung an sich – in Konkurrenz zu bisherigen gewerblichen und kirchlichen Eheanbahnungsinstituten.

Bis in die jüngste Zeit ist das digitale Dating vor allem als ein Phänomen der Internet-Ära gelesen worden. Doch bildete die neue Form dieses Datings schon ab den ausgehenden 1950er-Jahren einen zentralen Teil der Gesellschaftsgeschichte des digitalen Zeitalters.

Liebe als planbare Größe

Eine akademische Allianz von Computer- und Sozialwissenschaften schickte sich hier an, den „Algorithmus der Liebe“ zu ergründen. Durch die „Verwissenschaftlichung“ der Partnerwahl avancierte das Ideal der romantischen Liebe so zur planbaren Größe. Die Anfänge der „wissenschaftlichen“ Partnervermittlung lagen in den USA, wo einzelne Institute unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg den Computer als „Ehemaschine“ zu vermarkten begannen.

Gegen Ende der 1950er-Jahre reifte der Computer als „Matchmaker“ hier zum Medienereignis. Die „Dating-Euphorie“ der 1960er-Jahre muss vor dem Hintergrund der zunehmenden Kommerzialisierung und Internationalisierung dieser Entwicklungen betrachtet werden.

Die neuen Computer-Dating-Agenturen versprachen dabei im „Golden Age of Marriage“ nichts weniger als den „idealen Partner fürs Leben“. Allerdings überließen sie es zusehends ihren Kunden, zu welchen Zielen und Zwecken diese eine vorübergehende oder dauerhafte Verbindung mit einem anderen Menschen eingingen.

So verwandelte sich der „Heiratsmarkt“ sukzessive in einen „Partnerschaftsmarkt“. Bis zum Ende der 1970er-Jahre schlug sich die Liberalisierung des Dating-Verhaltens auch in der Praxis der Vermittlung nieder. Die Idee des (digitalen) Datings, die sich an die wachsende Gruppe der „Singles“ richtete, war so zugleich Symptom tiefgreifender kultureller und gesellschaftlicher Umbrüche.

Dating-Fieber in den 60er-Jahren

Das „Dating-Fieber“ spiegelte um 1968 die sich wandelnden Vorstellungen von Liebe, Partnerschaft und Ehe wider, die den „Sommer der Liebe“ begleiteten, die viel beschworene „sexuell-moralische Wende“ einläuteten und der Diskussion um den „Wertewandel“ Vorschub leisteten.

In dem Maße, wie Beziehungen, Familie und Kinder ab den späten 1960er-Jahren zu Optionen privater Lebensplanung und Themen der (Selbst-)Optimierung wurden, veränderte sich auch der Markt der Partnervermittlung. Neben die klassische „Eheanbahnung“ trat, aus dem Geiste der Dating-Partys am Campus und einzelner Rendezvous-Aktionen von Jugendmagazinen, eine Form des „Single-Datings“, die der Pluralisierung der Lebensmodelle und der Liberalisierung von Liebeskonzepten Ausdruck verlieh.

Die App Tinder.
Der Siegeszug des digitalen Datings, der sich an die wachsende Gruppe der „Singles“ richtete, war ein Sinnbild „technokratischer Machbarkeits- und Planbarkeitsutopien“.

© REUTERS

Allerdings verbanden sich der Diskurs der „Liberalisierung“ und der „Pluralisierung“ von Familien- und Partnerschaftsmodellen und die Praxis einer „Normalisierung“ sozialer Ordnungen in diesen Jahren in erstaunlicher Weise. Dabei reproduzierte das Computer-Dating in der Praxis zugleich überkommene Muster sozialer, religiöser, sexueller und kultureller Diskriminierung. Die „Dating-Euphorie“ spiegelte so die widersprüchlichen Aushandlungs- und Ablösungsprozesse des kulturellen Wandels um 1968 wider.

In der Bonner Republik sehnte sich das Gros der Studentinnen und Studenten zum Beispiel auch im Sommer 1967 noch immer nach „sexuellen Beziehungen mit einem einzigen Partner, zu dem eine Liebesbeziehung besteht und den man heiraten möchte“. Für rund 60 Prozent der Studierenden und bis zu 75 Prozent der Gesamtbevölkerung sprengte Ehebruch den Rahmen der „sexuellen Revolution“.

Goldene Ringe aus dem Computer

Auch die Politisierung von Sex und die Emanzipation sexueller Minderheiten waren hier – wie andernorts – noch lange „nicht mehrheitsfähig“. In diesem Sinne war „1968“ keineswegs „überall“.

In seiner Verbindung von Liebes- und „Vernunftehe“ versprach das Computer-Dating, das die klassischen Heiratsbüros zunehmend unter Druck setzte, so zwar noch an der Schwelle zu den 1970er-Jahren das große Glück: „Goldene Ringe aus dem Computer“ lautete die Verheißung, mit der „Westermanns Monatshefte“ die Chancen der Partnervermittlung im digitalen Zeitalter anpriesen.

Die Euphorie und das „Dating-Fieber“ der ersten Jahre waren von der Idee der Planung und dem technokratischen Versprechen einer Optimierung des Privaten getragen. Sie wichen allerdings schon bald einer wachsenden Skepsis, als die viel beschworene „Liberalisierung" der Liebe einem – von kommerziellen Regeln durchdrungenen – „freien Markt“ den Weg wies.

Die Geschichte der elektronischen Partnervermittlung ab den späten 1950er-Jahren spiegelte so zugleich die Sehnsüchte und Ängste des Computerzeitalters wider. In den USA wie auch in Westeuropa gab es Kritik an den vagen Prophezeiungen einzelner Institute, welche die Branche zusehends in negative Schlagzeilen brachten. Dabei erschütterten horrende Gebühren, Pannen und Fehlzuordnungen das Vertrauen in die vermeintlich kühle Logik des Computers.

Mangelhafter Datenschutz

Auch gab es Querelen um die Verletzung von Privatsphäre und Datenschutz, als einzelne Kunden begannen, die Namen und Adressen ihrer weiblichen Kontakte weiter zu veräußern. In der Bundesrepublik konstatierte ein Branchenvertreter 1973 ein massives „Image-Problem“. Der „Stern“ hatte 1970 eine Reportage über die „betrügerischen und trickreichen Manipulationen“ des „Eheanbahnungsgewerbes“ publiziert, in deren Folge Beschwerden bis an das Familienministerium drangen.

Ab Mitte der 1970er-Jahre belebte der Boom des Video-Datings die zuvor gescholtene Branche aber bereits wieder. In den USA und in der Bundesrepublik, in der Schweiz, in England oder in Frankreich, wo Videotext-Systeme wie BTX, Prestel oder Minitel eine (intime) Kommunikation in Chatrooms ermöglichten, drängten neue, interaktive Angebote auf den Markt.

Diese „Singlebörsen“ erlaubten es Interessierten, zunehmend eigeninitiativ im digitalen Raum nach Partnern zu suchen. So etablierte sich eine Form des Datings, die in die Ära des World Wide Web vorauswies.

Der Computer versprach die Liebe zur planbaren Größe zu machen.
Der Computer versprach die Liebe zur planbaren Größe zu machen.

© PhotoSG - Fotolia

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die „globalen“ 1960er- und 1970er-Jahre auch und gerade aus der Perspektive einer Sozial- und Kulturgeschichte des Kennenlernens dynamische Zeiten waren – und Jahre der radikalen Gegensätze. In der Praxis des Computer-Datings verblasste das Klischee der „freien Liebe“, die riskante Beziehungen einging und die Pille als Ausdruck der sexuellen Emanzipation pries, angesichts des konservativen Strebens nach „Sicherheit“.

Siegeszug des digitalen Datings

Zugleich war der Siegeszug des digitalen Datings, der sich an die wachsende Gruppe der „Singles“ richtete, ein Sinnbild „technokratischer Machbarkeits- und Planbarkeitsutopien“. In seiner Rolle als „Elektronen-Amor“ verlieh der Computer dem opaken Prozess des digitalen Wandels, der bis in die 1970er-Jahre eine Domäne von Spezialisten geblieben war, alltägliche Relevanz.

Für eine wachsende Zahl von Menschen begann der Weg in die „digitale Gesellschaft“ mit der elektronischen Partnervermittlung. Vor dem Hintergrund aktueller Kontroversen um ein Ende des „analogen“ Datings und um die Irrwege des Kennenlernens in der Ära des Internets kann uns die Geschichte des Computer-Datings daher neue Perspektiven auf den Wandel wie auch auf die Persistenz von Familienvorstellungen, Beziehungswünschen und Liebesidealen im digitalen Zeitalter vermitteln.

[Der hier veröffentlichte Text basiert auf einem längeren Artikel in der Zeitschrift „Zeithistorische Forschungen“ (https://zeithistorische-forschungen.de, Heft 1/2020). Der Autor arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.]

Michael Homberg

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