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Lebhafte Wissenschaft. Mehr als 800 Teilnehmer diskutierten am Dienstag im Berliner Kosmos-Kino bei der "Future Medicine"-Konferenz über Ideen für die Medizin der Zukunft.

© Anita Back

Digitale Medizin: Algorithmus statt Arzt

Der Genetiker Joel Dudley setzt auf den Computer, um Diagnosen zu stellen und Therapien zu entwerfen. Rückt der Arzt in die zweite Reihe?

Joel Dudley ist Genetiker, eine große, stattliche Erscheinung mit dem Aussehen eines Filmstars. Doch er leidet, wie er dem Publikum beim „Future Medicine“-Kongress am Dienstag im Berliner Kosmos-Kino erzählt, an Morbus Crohn, einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung. Dudley zeigt ein Foto seines Hautausschlags am Arm. Er habe damals seinem Arzt erzählt, wie faszinierend es doch sei, dass eine Darmkrankheit auch Hautsymptome verursache, berichtet Dudley. Aber der Darmspezialist habe ihn nur desinteressiert zum Hautarzt geschickt, damit er ihm Kortison verschreibe. Der wiederum sagte Dudley, dass er Hautarzt geworden sei, damit er sich nicht mit Darmproblemen herumschlagen müsse. Die beiden Gebietsärzte verkörpern so ziemlich das Gegenteil dessen, was Dudley als Wissenschaftler erreichen will. Sie sind Spezialisten, haben den Blick nur auf ein Organ und seine Krankheiten gerichtet.

Dudley sieht den ganzen Menschen, genauer: Er zerlegt ihn in seine medizinisch messbaren Daten und fügt diese dann wieder zu einem großen Ganzen zusammen. Hier entsteht also eine neue Heilkunde jenseits der Fachdisziplinen, deren Credo das Zusammenführen ungeheurer Datenmengen zum Zweck der Diagnose und Therapie ist.

Die Klinik wird zur Datenzentrale

So weit zunächst die Theorie – aber es gibt auch schon Praxis. „Next Generation Healthcare“ lautet der Name des Instituts an der Icahn School of Medicine des New Yorker Mount-Sinai-Krankenhauses, zu dessen erstem Direktor Dudley 2016 ernannt wurde. In Berlin zeigt er Bilder der gerade entstehenden „Next Generation Health Clinic“ in Manhattan, in der Patienten auf großen Bildschirmen gemeinsam mit dem Arzt ihre Befunde betrachten – die Klinik als pure Datenzentrale, als digitaler Knotenpunkt.

„Präzisionsmedizin“ nennt Dudley sein Vorgehen. Gemeint ist damit, dass das Vorbeugen und Behandeln von Krankheiten sich am Einzelnen ausrichtet und nicht mehr pauschal alle Patienten in einen Topf wirft. „Verwertet“ werden dabei vom Rechner so viele Informationen über den Kranken wie möglich. Die elektronische Patientenakte gehört ebenso dazu wie „molekulare Daten“, etwa Informationen über das Erbgut (Genom), die Proteine (Proteom) oder Stoffwechselprodukte (Metabolom). Auch Einflüsse wie Stimmung, Schlaf, geistige Beweglichkeit und das Immunsystem werden berücksichtigt. Mitunter werden Milliarden Informationseinheiten vom Rechner zu einem Bild zusammengepuzzelt.

Noch stehen die Datendeuter vom Mount Sinai am Anfang, aber sie können schon auf eine Reihe gewichtiger Untersuchungen verweisen. So veröffentlichten Dudley und sein Team 2015 eine Studie zum Alterszucker (Typ-2-Diabetes) mit rund 11 000 Teilnehmern. Sie werteten die in der elektronischen Krankenakte abgelegten Befunde ebenso aus wie genetische Patientendaten.

Der Rechner entdeckt ungekannte Risiken

Aus der Informationsflut schälten sich drei Atolle heraus, Untergruppen der Zuckerkranken. Gruppe eins war gekennzeichnet durch Nieren- und Netzhautkrankheiten, typischen Spätfolgen des Diabetes. Gruppe zwei hatte häufiger Krebs- und Herzkreislauf-Leiden und Gruppe drei war verknüpft mit Gefäßleiden, Nervenkrankheiten, Allergien und Infektionen mit HIV. Jeder Gruppe konnten zudem typische genetische Profile zugeordnet werden.

In einer weiteren Untersuchung nutzten Dudley und sein Team die Datenbank der Mount-Sinai-Klinik mit 700 000 elektronischen Patientenakten, um mit ihrer Hilfe den Rechner zu schulen. Das Ergebnis der Datenanalyse ist ein „tiefer Patient“ („deep patient“) mit bestimmten Eigenschaften. Diese „Repräsentation“ kann verwendet werden, um das Risiko eines Patienten für bestimmte Krankheiten zu berechnen oder Behandlungsempfehlungen zu geben. Der Algorithmus ersetzt den Arzt.

Dudleys Visionen von einer umfassenden rechnergestützten Medizin werden weite Verbreitung in Arztpraxen und Kliniken finden. Der Trend ist ebenso unübersehbar wie die Fragen, die sich stellen: Gibt der Arzt seine fachliche Kompetenz an den Computer ab, der künftig individuell maßgeschneiderte Diagnosen und Therapievorschläge ausspuckt (aber nicht verrät, wie er zu seinem Ratschluss gekommen ist)? Besteht nicht die Gefahr der Übertreibung, nach dem Motto: Je mehr Daten, desto mehr Krankheiten?

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