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Zum Alltag vieler älterer Menschen gehört die regelmäßige Einnahme vieler Pillen - was oft, aber nicht immer sinnvoll ist, warnen Ärzte.

© imago/Panthermedia

Die Tücken der Arzneimitteltherapie im Alter: Mal zu viel, mal zu wenig und dann auch noch das Falsche

Im Alter häufen sich Zipperlein ebenso wie schwere Erkrankungen. Wann welche Medikamente sinnvoll sind und wann nicht, darüber wissen Ärzte oft noch zu wenig.

Fünfmal am Tag muss er daran denken, mindestens eine Tablette einzunehmen. Insgesamt nimmt der alte Herr acht verschiedene Medikamente. Gegen seine Parkinson-Erkrankung und deren Symptome, gegen die Herzprobleme, die er seit einigen Jahren hat, gegen die hohen Blutfettwerte, den Bluthochdruck und die Arthrose im Knie, und für guten Schlaf. „Das therapeutische Optimum wurde hier verlassen“, urteilt der Geriater Heinrich Burkhardt.

Beim Symposium der Paul-Martini-Stiftung zu „Arzneimitteltherapie bei Menschen im Alter“ vergangene Woche in Berlin plädierte der Altersmediziner der Uniklinik in Mannheim für eine Strategie der De-Eskalation bei der Behandlung jener Hochbetagten, die unter mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden.
Die Frage, ob diese Patienten die Fülle der Untersuchungen und Behandlungen eigentlich vertragen, die für ihre einzelnen Leiden heute zur Verfügung stehen, durchzog die gesamte Veranstaltung. Sind viele nicht schlicht zu krank und schwach dafür? Immerhin ist in 6,5 Prozent der Fälle, in denen ein Mensch in der Notaufnahme eines Krankenhauses landet, eine unerwünschte Arzneimittel-Wirkung der Grund, wie Julia Stingl vom Uniklinikum Aachen berichtete.

Zuvor war die Pharmakologin im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte an der Auswertung von 10.000 Notaufnahme-Fällen beteiligt. Die typischen Symptome bei den im Schnitt 78-Jährigen, die durchschnittlich sieben Medikamente gleichzeitig nahmen, waren Stürze, Blutungen und Verwirrtheit. Weniger Pillen wären bei den meisten von ihnen mehr gewesen.

Keine Mittel vorenthalten, nur weil der Patient schon älter ist

Andererseits warnte Geriater Burkhardt davor, aus Angst vor derartigen Risiken den Erkrankten nützliche Mittel vorzuenthalten – nur weil sie sich schon im fortgeschrittenen Alter befinden. Abweichungen vom Optimum sieht er bei der Verordnung von Medikamenten durchaus in zwei Richtungen: Neben dem Zuviel gibt es auch ein Zuwenig.
So werde oft nicht erkannt, dass ein Demenz-Patient im Pflegeheim aggressiv reagiert, weil er bei der Körperpflege Schmerzen hat, berichtete der Charité-Anästhesist und Schmerzexperte Sascha Tafelski. „Eine der am besten behandelbaren Facetten der Alzheimer-Erkrankung“ seien Depressionen, die sich oft beim Übergang in das mittlere Stadium einer Demenzerkrankung entwickeln, sagt Oliver Peters von der Charité. Niedrig dosierte Antidepressiva vom Typ der Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer seien da sehr hilfreich.
Dass Medikamente bei Älteren mal stärker oder schwächer wirken, hänge mit unterschiedlichen körperlichen Veränderungen, etwa einer Zunahme des Körperfettanteils, und Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln zusammen, erläuterte der Pharmakologe Joachim Höchel von der Bayer AG. „Daraus sind jedoch keine allgemein gültigen Empfehlungen abzuleiten“, warnte er. Auch genetische Faktoren, die Persönlichkeit, der Lebensstil und der aktuelle Gesundheitszustand spielten eine wichtigere Rolle.
Je älter die Menschen werden, desto heterogener wird das Bild. Daher wird zwischen chronologisch-kalendarischem und biologischem Alter unterschieden. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die das Symposium mit ausrichtete, hatte schon im Jahr 2015 in einem Gutachten eine Individualisierung der Gesundheitsversorgung im Alter angemahnt. Alte Menschen hätten Anspruch auf eine wissenschaftlich fundierte Behandlung und müssten in Studien präsent sein.

Listen, welche Medikamente bei älteren Patienten nicht eingesetzt werden sollen

Diese Forderung sei inzwischen aufgenommen worden, versicherte die Klinische Pharmakologin Petra Thürmann von der Universität Witten-Herdecke. „Bei pragmatischen Studien zur Optimierung der Medikation im Alter hat sich viel getan, sie werden auch in Leitlinien berücksichtigt.“ Und es sind Listen von Medikamenten entstanden, die bei alten Patienten nicht eingesetzt beziehungsweise durch andere ersetzt werden sollten, etwa die Priscus-Liste.
Doch wann beginnt überhaupt das Alter? „Es gibt keine universelle Definition“, sagte Ursula Müller-Werdan, Direktorin der Klinik für Geriatrie und Altersmedizin der Charité und Leiterin des Evangelischen Geriatriezentrums Berlin. Von „jungen Alten“ spreche man üblicherweise ab Anfang, Mitte 60, das Attribut „alt“ werde ab Mitte 70 gebraucht. Setzt man es mit 80 an, so passt es heute auf 4,5 Millionen Bundesbürger.

Für Medizinerin Müller-Werdan ist Altern vor allem gekennzeichnet durch zunehmende Gebrechlichkeit und ein „Abschmelzen der Funktionsreserven der Organe“, etwa der Nieren. Unter einer chronischen Niereninsuffizienz leiden mehr Menschen als unter einem Diabetes vom Typ 2, sagte Charité-Nephrologe Kai-Uwe Eckardt. Es sei „ein Risiko für fast alles“, wenn dieses Organ seine Filterfunktion nicht mehr ausreichend wahrnimmt. Ärzte müssten dem mehr Beachtung schenken. Wenn es ans Verordnen von Medikamenten für die Niere gehe, müsse man allerdings den ganzen Patienten betrachten und bei Hochbetagten mehr die Lebensqualität im Blick haben als eine langfristige Prognose – die für viele von ihnen angesichts ihrer kurzen Lebenserwartung vielleicht gar nicht mehr relevant ist.

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