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Großes Gehirn und lange Kindheit – die Entwicklung in Richtung Homo sapiens ist schon am Schädel von Australopithecus afarensis zu erkennen.

© Philipp Gunz, MPI EVA

Die späte Reife des Hirns von Australopithecus: Lucys lange Kindheit

Neue Studie: Die lange Entwicklungsphase des Hirns gab es schon beim Vormenschen.

Kaum eine andere Art auf der Erde sorgt sich länger um ihren Nachwuchs und bereitet ihre Kinder auf das Leben als Erwachsene vor als der Mensch. Die Entwicklung hin zu dieser langen Ausbildungszeit reicht wohl drei Millionen Jahre zurück, bis zum Vormenschen Australopithecus afarensis.

Das berichtet ein Forschungsteam um Philipp Gunz vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig im Fachblatt „Science Advances“. Das Gehirn dieser Art, die vor allem durch das in Äthiopien entdeckte Fossil „Lucy“ bekannt geworden ist, wuchs wohl ähnlich wie bei Menschenkindern heute nach der Geburt noch lange weiter, schließen die Forscher aus Schädel-Untersuchungen.

Das wohl auffälligste Kennzeichen unserer eigenen Gattung ist ein großer Schädel mit einem Gehirn, dessen Ausmaße das Denkorgan unserer nächsten lebenden Verwandten wie Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans übertreffen. Mithilfe ihrer so gesteigerten geistigen Kapazitäten konnten daher schon die Steinzeitmenschen vor zwei Millionen Jahren relativ aufwendige Werkzeuge herstellen, mit denen sie besser jagen sowie ihre Beute zerlegen und gesammelte Früchte, Knollen und Gräser zubereiten konnten.

Viele Jahre um den Nachwuchs kümmern

Allerdings passt ein Schädel mit einem solch großen Gehirn bei der Geburt nicht mehr durch das Becken der Mutter, das durch das Gehen auf zwei Beinen kleiner als bei den verwandten Menschenaffen ausfällt. Daher kommt der Nachwuchs von uns Menschen mit einem deutlich kleineren Schädel zur Welt, dessen Gehirn zwar bereits alle Nervenzellen enthält, die aber noch kaum untereinander verknüpft sind.

Diese Verknüpfungen bilden sich dann vor allem in den ersten Lebensjahren, gleichzeitig vergrößern sich Gehirn und Schädel und ermöglichen so dem heranwachsenden Kind, seine geistigen Kapazitäten möglichst gut an die Gegebenheiten seiner Umwelt anzupassen.

„Diese lange Entwicklungsphase bedeutet aber auch, dass die Eltern sehr viele Jahre lang für ihren zunächst völlig hilflosen Nachwuchs sorgen müssen“, erklärt EVA-Forscher Philipp Gunz. Kleine Schimpansen und damit unsere nächsten Verwandten hangeln sich dagegen bereits viel früher selbstständig durchs Geäst.

Den Wurzeln dieser extrem langen Kindheitsphase kamen die EVA-Forscher Philipp Gunz und Simon Neubauer mit weiteren Kollegen jetzt auf die Spur, als sie mit Computer-Tomographen die Abdrücke des Gehirns in acht Schädeln von Australopithecus-afarensis-Vormenschen sehr genau untersuchten, die vor mehr als drei Millionen Jahren im heutigen Äthiopien lebten.

Lange Lernphase schon beim Australopithecus

Einer dieser Vormenschen starb 861 Tage, keine zweieinhalb Jahre nach seiner Geburt, schließen Mitarbeiter des Teams aus den Zähnen dieses Kindes, dessen Fossilien im Jahr 2000 von Zeresenay Alemseged von der University of Chicago ausgegraben wurde. Als die Forscher dann das Gehirn dieses Kindes mit den anderen Australopithecinen verglichen, konnten sie ausrechnen, dass sich das Gehirn dieser Vormenschen nach der Geburt erheblich länger als bei kleinen Schimpansen entwickelte. Die Struktur des Denkorgans dagegen lässt sich praktisch nicht von einem Affengehirn unterscheiden, abgesehen davon, dass die Australopithecus-Version rund zwanzig Prozent größer ist als die eines Schimpansen.

„Bereits vor mehr als drei Millionen Jahren waren also die Weichen für eine lange Lernphase und auch für die spätere Entwicklung zu den Gehirnstrukturen des heutigen Menschen gestellt“, meint EVA-Forscher Philipp Gunz. Während später also mit dem Umbau zu menschentypischen Strukturen zum Beispiel die Entwicklung zum Sprechen in die Wege geleitet wurde, konnte der Australopithecus-afarensis-Nachwuchs seine verlängerte Kindheit und die Abhängigkeit von seinen Eltern für das Training neu erworbener Eigenschaften wie des aufrechten Gangs und vielleicht auch der Herstellung von Werkzeugen nutzen.

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