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Fischbild mit hoher Walbeteiligung.

© Illustration: De Agostini via Getty Images

Die Phonetik von Urnengängen und Meeressäugern: Leviathan, La Fontaine und der Stimmenfang im Ozean

Haben Wahlen etwas mit Walen zu tun? Man muss nur tief eintauchen, dann lautet die Antwort: Meer als man denkt.

Es gibt Kulturen, in denen gleichklingende, aber unterschiedlich geschriebene Begriffe nicht einfach nur eine Frage der Orthographie sind. Die chinesische etwa misst solchen gemischten Doppeln spezielle Bedeutung bei. Das führt dann zum Beispiel dazu, dass es in Krankenhäusern nie ein viertes Stockwerk gibt, weil das Wort „vier“ (shö) in Mandarin fast so klingt wie das für „Tod“. Und wer möchte schon auf der Todesstation liegen oder arbeiten? In Deutsch gibt es auch jede Menge Klanggleichheiten, und nicht selten kommt man auch auf Bedeutungsverbindungen, bei Kälte und Kelte etwa, manchmal auch bei Lehre und Leere. Und keine Nachnahme ist möglich, wenn kein Nachname auf dem Formular steht.

Es gibt noch deutlich mehr, zum Beispiel "mehr" und "Meer". Aus aktuellem Anlass haben wir uns, streng wissenschaftlich, einmal das Wortpaar Wahl/Wal vorgenommen.

Urwal

Den Kanzlerkandidaten hat die SPD nicht von der Basis bestimmen lassen. Die Parteispitze aber wurde durch solch eine Urwahl besetzt. Was ein Urwal ist das stand kürzlich in dieser Zeitung, als wir über Phiomicetus anubis berichteten. Der hatte vor 43 Millionen Jahren noch Beine, war aber in der Meeresgegend, in der er lebte, auch schon ein wahrer Leviathan und der gefährlichste Unterwasserjäger.

Walweise. Zu Land oder zu Wasser war Phiomicetus unterwegs.
Walweise. Zu Land oder zu Wasser war Phiomicetus unterwegs.

© Illustr.: R. Boessenecker

Mit dem endgültigen Übergang zum Leben im Ozean kam den Walen später neben ihrer Standhaftigkeit noch einiges andere abhanden, ihr Fell zum Beispiel. „Sie wurden“, sagt der Hamburger Evolutionsbiologe und Tagesspiegel-Autor Matthias Glaubrecht, mit der Zeit „aalglatt und stromlinienförmig“. Ähnliches soll mit Gegenwartsmenschen, nachdem sie gewählt worden sind, ja auch gelegentlich geschehen sein. Davon, dass manche nach Wahl und Wiederwahlen wie Phiomicetus irgendwann auch zum Fossil werden, ganz abgesehen.

Walbenachrichtigung

Nicht Kanzlerin oder Kanzler, sondern die Zusammensetzung der jeweiligen volksvertretenden Versammlung wird ja an Wahlsonntagen bestimmt. Das Parlament ist das A und O der Demokratie, nicht die Armins und Olafs. Das Wort kommt aus dem Altfranzösischen und bedeutet „Unterredung“. Und wenn Wale außer schwimmen etwas gut können, dann ist es das: sich unterhalten, reden, kommunizieren. Das tun sie vor allem innerhalb der Fraktion, also ihrer Gruppe oder Population. Was sie dabei unter anderem mit Politikern gemein haben, ist, dass sie oft Sprechblasen produzieren, denn sie müssen dafür meist Luft ausstoßen. Zahnwale kreieren Klicklaute über „Ton-Lippen“ (phonic lips) und ein Organ namens „Melone“ im Kopf. Bei der Gruppe der Bartenwale spielt dagegen wie beim Menschen der Kehlkopf eine Hauptrolle.

Walweise eine andere nicht ganz unpolitische Art, sich verständlich zu machen, ist es, ordentlich auf den Tisch zu hauen – beziehungsweise die Wasseroberfläche. Buckelwal-Kühe tun dies mit ihren Flossen, um zudringliche Bullen unmissverständlich abzuweisen. Man könnte jetzt einwenden, dass diese Laute meist nicht als „Rede“, sondern als Gesang bezeichnet werden. Aber das ist eine komplett anthropozentrische Kategorisierung. Und auch im Parlament wird ja gelegentlich gesungen, am 9. November 1989 etwa erklang aus den Kehlen der Abgeordneten des Bonner Bundestages die Nationalhymne. Und wir erinnern uns auch an Andrea Nahles (die eigentlich auch Kanzlerin werden wollte) und ihren Vortrag des Pippi-Langstrumpf-Liedes 2013. Und in einer Episode der Fernsehserie wiederum rettet Pippi ihrerseits bedrohte Wale.

Wal-Kreise

Wahlkreise sind ja gar keine Kreise. Sie sind jedenfalls nicht rund. Das haben sie mit Wal-Kreisen gemein, also den Territorien der Meeressäuger, wobei letztere dem geometrischen Ideal noch deutlich näherkommen als die zackigen Gebilde von „Aachen 1“ bis „Steglitz-Zehlendorf“. Die Territorien mancher Orca-Population etwa haben solch eingebuchtete Grenzverläufe nur, wenn die Grenze eben eine Küste ist. Denn an Land können sie ja nicht (oder nicht mehr, s.o.) gehen, weder in einem ersten noch in irgendeinem weiteren Wal-Gang. Oft fast rund sind „Bubble-Rings“, Kreise aus Luftblasen, bekannt vor allem von Buckelwalen.

Buckelwal
Buckelwal

© Eibner/imago

Lange glaubte man, dass deren einziger Zweck sei, Schwärme von Krill und kleinen Fischen zu irritieren, einzuschließen und sich dann einzuverleiben. Genauso optisch aus dem Konzept bringen kann diese Walmanipulation aber auch Angreifer. Dazu gehören Orcas, die es auf den Nachwuchs abgesehen haben. Und in jüngerer Zeit mehren sich Hinweise, dass die Walkreise aus Luftblasen auch als Sprechblasen genutzt werden – also zur Kommunikation dienen.

Ihr Vorteil gegenüber „gesungenen“ Signalen wäre, dass sie nur auf Tiere in unmittelbarer Nähe wirken und nicht von weiter entfernten Feinden wahrgenommen werden könnten. Die New Yorker Walbeobachterin Joy Reidenberg sagte dem Magazin „The Atlantic“ einmal, die Blasen schienen ihr manchmal „das Äquivalent eines Ausrufezeichens“ oder gar des „Zeigens des Mittelfingers“ zu sein. Bei Walen ist derlei offenbar erfolgversprechend. Bei Wahlen, wir erinnern uns an Per Steinbrücks im „SZ Magazin“ abgedruckte Geste 2013, nicht unbedingt.

Stimmenfang

Darüber, was es bedeutet, bei einer Wahl die eigene „Stimme abzugeben“, ist schon viel gewahlauert worden. Doch Menschen gehen nicht nur bei Wahlen auf Stimmenfang, sondern auch bei Walen: Deren Rufe und Gesänge helfen Forschenden dabei, die Standorte der Tiere und Schwärme zu verfolgen. Bei Zahnwalen könnte es in Zukunft sogar möglich sein, auf diese Weise Einzeltiere zu identifizieren. Denn die Klicklaute scheinen hier individuell zu sein. Bei Buckelwalen, Pottwalen und Orcas unterscheiden sich zumindest die Populationen in ihren Lautäußerungen.

Buckelwale können auch die Laute anderes Spezies verstehen.
Buckelwale können auch die Laute anderes Spezies verstehen.

©  EPA/Trevor Long/dpa-Bildfunk

Sie sprechen gleichsam Dialekt. Zu den am stärksten bedrohten Arten zählt der Atlantische Nordkaper. Für diesen Glattwal haben Forschende aus Florida kürzlich eine Methode vorgestellt, die mit „Machine Learning“ und künstlicher Intelligenz arbeitet. Sie soll die als „Up-Calls“ bezeichneten Laute der Tiere identifizieren und besser als alle bisherigen Aufnahme- und Auswertungsverfahren funktionieren. Viele Stimmen allerdings gibt es bei diesem Walvolk nicht zu fangen: Die letzte Zählung dokumentierte nur noch 368 von ihnen. Kein schönes Walergebnis.

La Fontaine

Oskar Lafontaine hat einmal gesagt, dass es zwar schwierig, aber wichtig sei, gegen den Strom zu schwimmen. Das war aber auch schon seine größte dokumentierte Annäherung an irgendein Wassertier. Mit den Walen verbindet ihn zumindest ein entscheidendes Jahr. 1970, als der Wissenschaftler Roger Payne seine Schallplatte mit Ton-Aufnahmen von Buckelwalen herausbrachte, bekam das Waldebakel der immer weniger werdenden Tiere, das sich in den Ozeanen längst abspielte, erstmals weltweite Aufmerksamkeit. „Songs of the Humpback Whale“ ist bis heute einer der weltweit bestverkauften Tonträger jenseits von Rock und Pop.

In dem Jahr, als die Beatles endgültig damit aufhörten, begannen die Buckelwale mit Plattenaufnahmen.
In dem Jahr, als die Beatles endgültig damit aufhörten, begannen die Buckelwale mit Plattenaufnahmen.

© Archiv

Im selben Jahr zog Lafontaine zum ersten Mal in ein deutsches Parlament ein, den Landtag in Saarbrücken. Dort sitzt er, nach ein paar Unterbrechungen mit Mandaten im Bundestag und Führungspositionen in gleich zwei verschiedenen Parteien, inzwischen wieder. Er ist damit der noch aktive Parlamentarier Deutschlands, der mit dem Parlamentarierleben am ehesten begann. Selbst Wolfgang Schäuble war später dran. Aufgrund dieses Rekordes eines immer wieder und wieder neu Gewählten hat er es in diesen Wa(h)l-Artikel geschafft. Und dann ist da natürlich noch sein Name, der an eine der ikonischen Verhaltensweisen der Wale erinnert. Mit den Fontänen, die sie ausstoßen, halten die Tiere ebenfalls Rekorde.

Bei Blauwalen können sie zwölf Meter hoch sein, mehr als jeder Elefant, jedes Llama oder sonst ein Tier zustande bringt. Wobei die Fontäne eigentlich gar keine richtige Fontäne ist: Was man sieht, ist schlicht das Ausatmen der Tiere, bei dem feuchtigkeitsgesättigte Luft die Lungen verlässt. Zuvor gasförmiges Wasser kondensiert in der deutlich kühleren Atmosphäre und wird zu feinen, sichtbaren Tröpfchen. Die Fontäne, die auch als „Blas“ bezeichnet wird, ist also eigentlich nur heiße Luft.

Wal-o-Mat

Bisher werden, soweit bekannt, noch immer durchweg richtige Menschen in Parlamente gewählt, keine Avatare, Androiden oder Roboter – obgleich man da manchmal auch Zweifel bekommen kann. Wale und Delfine allerdings – letztere gehören ja auch zu den Walen – könnten hie und da schon bald durch Walfälschungen ersetzt werden. Jedenfalls hat das US-Unternehmen „Edge Innovations“ im vergangenen Jahr ein automatisches und dem Großen Tümmler sehr ähnliches unbemanntes U-Boot vorgestellt (Video hier).

Die Idee dahinter: Solche Robotertiere könnten in Freizeitparks, wo weltweit derzeit soweit bekannt etwa 3000 Delfine und auch nach wie vor einige Orcas nicht artgerecht und ohne jegliche Walfreiheit gehalten werden, die Meeressäuger ersetzen. Ob solche Wal-Shows ganz ohne echte Walbeteiligung jemals Wirklichkeit werden, ist aber unklar. Kostenpunkt des aus Elektronik und Silikon gebastelten Delfinomats derzeit: gut 20 Millionen Dollar pro Stück.

Abtauchen

Bei Politikerinnen und Politikern der Grünen kann man davon ausgehen, dass sie auch in der Politik und im Wahlkampf möglichst naturnah bleiben wollen. Robert Habeck und Annalena Baerbock ist es 2021 zumindest gut gelungen, eine Grundverhaltensweise von Walen nachzuahmen: Das Abtauchen. Die Kandidatin war im Juli genau zu der Zeit, als die Vorwürfe gegen sie wegen eines aufgehübschten Lebenslaufes und abgeschriebener Passagen in ihrem Buch stetig mehr wurden, wochenlang im Urlaub und nicht zu erreichen. Habeck hielt es ähnlich. Dem ARD-Filmer Stephan Lamby sagte er, er habe die Woche mit Zelt und Campingkocher unbedingt gebraucht. Wale halten es bei ihren Tauchgängen allerdings nicht so lange aus. Offizieller Rekordhalter ist seit vergangenem Jahr ein Cuvier-Schnabelwal, der drei Stunden und 42 Minuten unter Wasser blieb.

Länger und tiefer: Cuvier-Schnabelwal (Ziphius cavirostris)
Länger und tiefer: Cuvier-Schnabelwal (Ziphius cavirostris)

© Andrew Read / Duke University

Für diese Art ist auch bekannt, dass sie in Tiefen von 3000 Metern vorstoßen kann. Wie die Tiere das machen, ist weitgehend ein Walgeheimnis, denn eigentlich sollten sie von ihren physiologischen Voraussetzungen her nicht länger als eine gute halbe Stunde tauchen können. Aber mehr Tiefe und öfter mal die Luft anhalten hie und da, das wäre sicher gelegentlich auch nachahmenswert für Politikerinnen und Politiker aller Parteien.

Walprognose

Der September 2021 ist wirklich ein Wal-Monat, zumindest in der Forschung. Neben der schon erwähnten neuen Methode zum Stimmenfang gibt es nun auch eine, mit der die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei Walen etwas zu schaffen behaupten, das bei Wahlen in letzter Zeit so überhaupt nicht mehr funktionieren wollte: eine genaue Prognose. Die Methode, entwickelt an der Oregon State University, basiert auf über einen Zeitraum von zehn Jahren gesammelten Daten zu Blauwalen vor Neuseeland und den Krill-Schwärmen, von denen sie sich ernähren. Sie sagt nach Angaben von Dawn Barlow und ihren Mitforschenden die zu erwartenden Positionen der Tiere bis zu drei Wochen vorab ziemlich gut voraus.

Blauwal.
Blauwal.

© Nature Picture Library / Tony Wu

Das ist nicht nur interessant, sondern kann auch dabei helfen, mit einem dynamischen Ansatz die Tiere immer gerade dort zu schützen, wo sie gerade sind. Man könne so sogar auf riesengroße, ohnehin schwer durchzusetzende statische Schutzzonen verzichten, was dann auch Schifffahrt und Fischfang zugutekommen würde. Derart gut vorbereitet geht in den Wahlabend des 26. September niemand. Denn niemand kann die Positionen vorhersagen, auf denen die führenden Politikerinnen und Politiker des Landes dann in die „Elefantenrunde“ gehen werden. Warum letztere überhaupt so genannt wird, ist eigentlich auch schwer begreiflich. Denn Wal-Runde wäre mit der Referenz zu großen Tieren ja genauso gut, und sprachlich dann auch noch viel näher an den Tatsachen.

Walkampf

Wale bilden Koalitionen, Walbündnisse. Schon vielfach ist beobachtet worden, wie Mitglieder verschiedener Arten gemeinsam unterwegs waren, sogar zusammen jagten. Kleine Schwertwale und Große Tümmler etwa nutzen diese Art von Waltaktik. Aber Wale kämpfen auch. Innerhalb der Art muss sich ein Bulle oft flossengreiflich mit einem Widersacher (Widerwal?) um den Zugang zu einem Partnerwal – also einer paarungsbereiten Kuh – auseinandersetzen.

Und zwischen den Arten geht es nicht selten um Leben und Tod, etwa wenn Orcas es auf ein Grauwal-Kalb abgesehen haben. Die großen, mythischen und literarischen Walkämpfe aber, sie fanden zwischen Meeressäuger und Mensch statt – und meist endeten sie in einem Walsieg. In der biblischen Geschichte von Jona muss Gott persönlich dem Tier befehlen, den jungen, reuigen Mann wieder auszuspucken.

Wars ein Fisch, wars ein Wal? Jona wars egal, Hauptsache raus da.
Wars ein Fisch, wars ein Wal? Jona wars egal, Hauptsache raus da.

© Alamy

Und in Herman Melvilles berühmten Roman schickt „Moby Dick“ letztlich Ahab samt Mannschaft in ihr nasses Grab. Der Anthropologe Stefan Helmreich interpretiert in seinem Buch „Alien Ocean“ allerlei Bedeutung in die Tatsache hinein, dass Moby Dick alt, weiß und männlich ist. Es war aber zumindest auch die einzige einigermaßen sichere Prognose für die Bundestagswahl am 26.September 2021: Ähnliches dürfte auch weiterhin für einen - gemessen an den Realitäten der Zusammensetzung der bundesdeutschen Bevölkerung - überproportionalen Anteil der Abgeordneten gelten.

In der chinesischen Mythologie ist der riesige, walartige, jähzornige – und natürlich männliche – Yu-Kiang der Beherrscher der Meere. Der Begriff für „Wal“ im modernen Mandarin dagegen lautet „Jing“. Er klingt dort natürlich nicht wie das Wort für „Wahl“.

Er hat aber einen Klangdoppelgänger. Der bedeutet "Schock" oder "große Überraschung".

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