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Die Karte des Piri Re’is (um 1470 bis 1554) stellt die gesamte Andenkette im Westen Südamerikas und den korrekten Küstenverlauf im Osten und Süden dar. Hinzu kommt ein Tier, das dem Lama nicht unähnlich ist.

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Die Karte des Piri Re’is: Als die Araber nach Amerika kamen

Die rätselhafte Karte des türkischen Admirals Piri Re’is wirft neues Licht auf das vergessene Wissen der Araber: Amerika kannten sie wohl, bevor Christoph Kolumbus dort landete.

Karten führen nicht nur zu Schätzen, sie sind es selbst, denn sie bargen lange Geheimwissen. Für uns, die wir heute immer schon überall gewesen sind, ist schwer vorstellbar, welche Macht Karten einst hatten. Lange bevor wir uns wirklich an einen Ort begeben, sind wir per Google Maps oder Google Earth schon vorausgereist – bis selbst in die abgelegensten Winkel der Welt. Die längste Zeit unserer Geschichte aber hatten Menschen keine rechte Vorstellung über ihre Erde. Erst im Zeitalter der Entdeckungen gelangten sie weit über Europa hinaus und begannen die geografischen Erkenntnisse in räumliche Beziehung zueinander zu setzen, so glaubte man bisher.

Mit Kolumbus gewannen Weltkarten schnell an Bedeutung und avancierten zum vorherrschenden Prinzip. Karten erzählten nicht nur von den neuesten Ereignissen, sie wurden der Schlüssel zu Macht und Wohlstand. Seitdem lässt sich die Geschichte der Welt auch als eine Geschichte der Kartografie schreiben. Dabei können wir aber bis heute nicht immer zwischen Fakten, Fantasie und Fake unterscheiden.

Die Karte eines türkischen Admirals wirft Fragen auf

Mit windigen Thesen versuchte Präsident Erdogan Ende 2014 seinen Anspruch auf „Türkei first“ zu untermauern, als er behauptete Amerika sei lange vor Kolumbus durch muslimische Seefahrer entdeckt worden. Dass Kolumbus nicht der erste und Amerika bereits ein halbes Jahrtausend zuvor von den Wikingern „entdeckt“ worden war, gehört heute allerdings zum gesicherten Wissen. Was Erdogan nicht wusste, wird indes bislang auch von der westlichen Geschichtsschreibung weitgehend ignoriert: Die Küsten Amerikas waren den Arabern lange erstaunlich präzise bekannt. Es ist die Karte eines türkischen Admirals, die dabei eine der spannendsten Fragen der Entdeckungsgeschichte beleuchtet: Was wusste Kolumbus wirklich über die andere Seite des Atlantiks, bevor er 1492 gen Westen aufbrach?

Wissenschaftlich fundiert und durchaus ernst zu nehmen hat insbesondere der Frankfurter Orientalist und Islamforscher Fuat Sezgin über Jahrzehnte die These verfolgt, dass der amerikanische Kontinent durch muslimische Seefahrer von Westafrika und vom Indischen Ozean aus ausgiebig bereist und kartografiert worden ist.

Sezgins Abhandlungen blieben jedoch selbst in der Fachwelt weitgehend unbekannt. Jetzt hat die Journalistin Susanne Billig sie in ihrem Buch „Die Karte des Piri Re’is“ (C.H. Beck, München) aufgegriffen, um sie einem größeren Publikum näherzubringen. Sie trägt die von Sezgin akribisch untersuchten Umstände zusammen, die darauf hindeuten, dass arabische Seefahrer vor Kolumbus gezielt den Atlantik überquerten. Ein wichtiges Indiz ist dabei jene fragmentarisch überlieferte Karte des Piri Re’is, eines begnadeten Kartografen und Admirals der osmanischen Flotte. Im hohen Alter von 84 Jahren fiel er, nach einer langen erfolgreichen Karriere, durch eine Intrige bei Sultan Suleiman II. in Ungnade, der ihn im Jahre 1554 hinrichten ließ.

Das Wissen der muslimischen Welt zur Zeit von Kolumbus

Unsterblich aber wurde Piri Re’is durch eine Karte, die 1513 zum Bestandteil seines arabischen Segelhandbuchs wurde und vermutlich deshalb, anders als viele isolierte Kartenblätter, erhalten blieb. Sie spiegelt das höchst beachtliche Wissen der muslimischen Welt zur Zeit der Entdeckungen des Kolumbus wider. Die Karte war 1929 eher zufällig in der Bibliothek des Serail – des alten Sultanspalasts in Istanbul – von einem evangelischen Theologen auf Orientreise entdeckt worden. Sie gibt den Forschern bis heute Rätsel auf. Das knapp 85 mal 60 Zentimeter große Kartenfragment, auf einer pergamentartigen dünnen Tierhaut gezeichnet und mit arabischen Schriftzeichen in osmanischer Sprache versehen, zeigt neben der Küstenlinie Westafrikas und dem Zentralatlantik vor allem die Küsten Nord- und Südamerikas.

Die Karte, die bis heute im Topkapi-Palast in Istanbul unter Verschluss gehalten wird, stellt zudem die gesamte Andenkette im Westen Südamerikas dar; dazu ein Tier, einem Lama nicht unähnlich. Die Anden aber hatte – wenigstens nach offizieller Geschichtsschreibung – bis dahin noch kein Europäer zu sehen bekommen; schon gar nicht Kolumbus. Außerdem verblüfft, wie detailreich und korrekt der Küstenverlauf im Osten und Süden Südamerikas wiedergegeben ist, einschließlich der Unterläufe der Flüsse, vom Orinoko bis zum Rio de la Plata. Der osmanische Begleittext der Karte beruft sich dabei auch auf andere als arabische Kartenquellen, darunter vor allem der Portugiesen, aber auch auf die eines gewissen Kolumbus.

Solche Karten könnten den Osmanen 1501 bei einer Seeschlacht vor der Küste von Valencia mit einem spanischen Schiff in die Hände gefallen sein, glauben deshalb einige Historiker. Möglicherweise waren aber auch geheim gehaltene portugiesische Karten in die Hände Piri Re'is gefallen, als er mehrere Stützpunkte der Portugiesen auf der arabischen Halbinsel eroberte, so meinen andere. Bis heute ist die Karte des Piri Re’is nicht vollständig enträtselt. Ihr Detailreichtum legt jedoch nahe, dass der türkische Admiral in ihr arabisches Wissen aus der Zeit weit vor Kolumbus’ Entdeckungsreise verarbeitet.

Arabische Seefahrer versuchten seit dem 12. Jahrhundert den Ozean zu überqueren

Eine detaillierte Untersuchung der titelgebenden Karte indes unternimmt Billig nicht. Für sie und Sezgin ist sie allein wichtig, weil sie die These stützt, dass es unabhängig von der abendländischen Tradition in anderen Regionen der Erde geografisches Wissen gab. Und dass dieses auf hoch entwickelten nautischen Kenntnissen und Fähigkeiten arabischer Seefahrer beruhe, die seit dem 12. Jahrhundert versuchten, den „Finsteren Ozean“ in westlicher Richtung zu überqueren.

Der neuen Publikation geht es um einen Perspektivwechsel und den bislang von der westlichen Geschichtsschreibung meist negierten Anspruch des frühen, auch geografischen Wissens im sogenannten „arabisch-islamischen Kulturraum“. Geografisch zentral gelegen trugen dort die Araber überliefertes Wissen anderer Kulturen zusammen, entwickelten es aber auch selbst weiter. Billig stellt ausführlich den Beitrag islamischer Gelehrter früherer Jahrhunderte zur Astronomie, Mathematik, der Nautik und Geografie vor. So errichteten arabisch-islamische Gelehrte bereits Jahrhunderte vor den Europäern Sternwarten, arbeiteten mit Quadranten, Sextanten und Astrolabien, konnten Längen- und Breitengrade verlässlich ermitteln und zeichneten exakte Karten.

Billig will mit dem historischen Irrtum aufräumen, die Portugiesen der frühen Neuzeit hätten ihre Kartenwerke und Seefahrerkünste quasi aus dem Nichts hervorgebracht: „Dieser Topos der genialischen Neuerfindung leugnet die Kontinuität zwischen der mittelalterlichen arabisch-islamischen Kultur und dem frühneuzeitlichen Abendland“.

Historiker nehmen die Leistungen der Muslime wenig zur Kenntnis

So beeindruckend die Leistungen der Muslime sind, so sehr erstaunt, wie wenig die professionelle Historikerzunft solche Überlegungen bislang zur Kenntnis genommen hat. Billigs Buch ist insofern hochaktuell, weil derzeit der wissenschaftliche Beitrag der islamischen Welt politisiert wird – nicht nur durch Erdogan. Von der anderen, islamkritischen Seite, werden wissenschaftliche Errungenschaften aus vormuslimischer oder muslimischer Zeit infrage gestellt. Beides lenkt von einer seriösen Auseinandersetzung mit historischen Fakten oder auch mit teilweise fehlenden Evidenzen ab.

Jedenfalls gehört es zur Unwucht des abendländischen Selbstverständnisses, den Wissenstransfer und das Zusammenwirken der großen Schriftkulturen zu verkennen. Ungeachtet der Religion tauschten sämtliche Kulturen seit dem Altertum wissenschaftliche Kenntnisse aus, wurden die Werke der Griechen und Römer ebenso wie die der Perser, Syrer und Inder ins Arabische übersetzt und gelangten mit der arabischen Expansion in das damals technisch rückständige Europa. Dort wurde dann die arabische Herkunft des Wissens, religiös motiviert, verschleiert – und damit der Boden für eine weithin vorherrschende eurozentrische Geschichtsschreibung bereitet.

Kein Zweifel: Einst gehörten Karten zu den begehrtesten und geheimsten Schriftstücken. Unklar bleibt indes auch bei Billig, wie das nautische Wissen der Araber an Kolumbus gelangte, dessen Entdeckungen dann ausweislich von Piri Re’is Karte wieder zurückflossen. Aber Billigs Buch zeigt einmal mehr, wie lückenhaft unsere Kenntnis europäischer Kartografie zur Zeit des Kolumbus ist – und welche oft verkannte Rolle Karten beim Werden unseres Weltbildes spielten.

Matthias Glaubrecht

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