zum Hauptinhalt
Selbst Arten wie der Klatschmohn (Papaver rhoeas), die als weit verbreitet gelten, werden in Deutschland seltener.

© Sebastian Lakner

Die grüne Biodiversitätskrise: Jedes Jahrzehnt verliert Deutschland fast zwei Prozent seiner Pflanzenarten

Das Fundament vieler Ökosysteme in Deutschland bröckelt. Doch dem Pflanzenschwund könnte begegnet werden.

Die blauen und roten Farbtupfer auf reifenden Getreidefeldern sind weitgehend verschwunden. Feld-Rittersporn oder Klatschmohn sind dem Einheits-Gelb der Ähren gewichen. Viele weitere Arten von in Deutschland heimischen Pflanzen sind betroffen.

David Eichenberg vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig und dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und seine Kollegen berichten in der Zeitschrift „Global Change Biology“ von dramatischen Verlusten: 71 Prozent der untersuchten 2136 Pflanzenarten sind seit den 1960er Jahren deutschlandweit auf dem Rückzug.

Naturschutzverbände mahnen bereits seit vielen Jahren, dass die Pflanzenvielfalt abnimmt. Nur gab es dazu lediglich Untersuchungen in bestimmten Gebieten und die Rote Liste der gefährdeten Arten. „Eine deutschlandweite quantitative Analyse aber fehlte bisher“, erklärt Biodiversitätsforscher Florian Jansen von der Universität Rostock, Koautor der Studie.

Diese liefern die Wissenschaftler jetzt. Und das nicht nur für die gefährdeten Arten, sondern für den größten Teil der in Deutschland heimischen Arten einschließlich der häufigen „Allerweltspflanzen“, die bisher weniger beachtetet wurden. Nur die extrem seltenen Arten konnten die Forscher nicht untersuchen, weil sie schlicht zu selten waren, um im Modell dargestellt zu werden.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können]

Rückgang Alteingesessener

Beim Bundesamt für Naturschutz in Bonn und den Naturschutzbehörden der Bundesländer sammelten die Forscher zuerst vorhandene Daten. Insgesamt werteten sie rund 29 Millionen Vorkommen von Pflanzen aus.

Biologen identifizieren die Arten mit eindeutig aufgebauten wissenschaftlichen Namen. Seit den 1960er Jahren wurden jedoch einige umbenannt. Eichenbergs Team musste die Listen zunächst harmonisieren um die Analyse zu ermöglichen.

Die Forscher teilten Deutschland in ein Netzwerk kleiner Quadrate von fünf mal fünf Kilometer Fläche auf. Dann analysierten sie, wie viele Pflanzen der verschiedenen Arten auf diesen Flächen wachsen und wie sich ihr Bestand seit den 1960er Jahren verändert hat.

Bis zum Jahr 2017 verschwand keine der untersuchten Pflanzenarten aus allen Rasterflächen, es gab also keine Totalverluste. Doch in den drei Jahrzehnten bis in die 1980er Jahre zeigt die Analyse einen starken Rückgang der Pflanzen, die seit Jahrtausenden in Deutschland heimisch sind.

Dazu gehören Arten wie Feld-Rittersporn und Klatschmohn, die erst mit den ersten Bauern nach Mitteleuropa kamen und die auch heute noch in Getreidefeldern, auf den Streifen am Rande der Äcker oder am Straßenrand wachsen.

Eintönig: Auf Flächen für industrielle Landwirtschaft ist wenig Platz für Vielfalt.
Eintönig: Auf Flächen für industrielle Landwirtschaft ist wenig Platz für Vielfalt.

© Frank Rumpenhorst/dpa

Da sich die Samen dieser Arten nur sehr schwer von den Getreidekörnern abtrennen lassen, wurden sie früher sehr häufig ungewollt zusammen mit dem Getreide ausgesät. Als moderne Methoden dann das Saatgut besser reinigten und vielerorts Agrarchemikalien die Unkräuter auf den Äckern vernichteten, begann nicht nur für den Mohn und noch viel stärker für den Rittersporn, sondern für viele andere Pflanzen auf und am Rande der Äcker der Rückgang. „Zumindest vermuten wir einen solchen Zusammenhang, den wir bald auch genauer untersuchen wollen“, erklärt Eichenberg.

Neuzugänge im Ökosystem

Ab den 1990er Jahren verlangsamte sich der Rückgang deutlich. „Vermutlich griffen dann Naturschutzmaßnahmen“, sagt Eichenberg. Gleichzeitig aber begann mit den „Neophyten“ eine andere Pflanzengruppe Boden zu gewinnen.

Mit diesem Begriff bezeichnen Biologen Pflanzen, die erst nachdem Christoph Columbus 1492 Amerika erreicht hatte, mit Schiffen nach Europa kamen. „Diese Neuankömmlinge breiten sich oft zunächst in der Umgebung großer Verkehrswege wie Autobahnen und Bahnlinien, oder aber auch in der Nähe von Häfen wie zum Beispiel in Hamburg aus“, erklärt Eichenberg.

Andere Pflanzen kommen aus dem wärmeren Südosten Europas über das Donautal langsam nach Mitteleuropa. Das geschieht allerdings wohl bereits seit langem. Aber erst, seit der Klimawandel Temperaturen steigen lässt, haben die oft an wärmere Regionen gewöhnten Pflanzen hierzulande auch längerfristig gute Chancen.

„In milden Regionen wie im Donautal rund um Passau oder auch am Niederrhein können sich dann Hotspots solcher Neophyten bilden, aus denen heraus sie sich weiter ausbreiten“, nennt Eichenberg die Ergebnisse anderer, kleinräumiger Untersuchungen. Diese Ausbreitung der bisweilen ungeliebten und das Ökosystem manchmal sogar bedrohenden Neuankömmlinge gleicht den raschen Schwund der Alteingesessenen nicht aus.

Maßnahmen gegen den Schwund

Wie dramatisch sich dieser Rückgang auswirkt, beschreibt Jansen: „Auf den Grünflächen im Nordosten Deutschlands, die einst durch das Entwässern von Niedermooren entstanden, wachsen heute auf einem Quadratmeter sechs oder sieben verschiedene Arten“. Ähnliche Werte finden sich auf den oft mit Gülle überdüngten Flächen im Nordwesten Deutschlands. „Werden solche Flächen nachhaltig bewirtschaftet, wachsen dort unter Umständen zehnmal mehr Arten“, erklärt Jansen. Spitzenwerte liegen im Grünland sogar bei über hundert Arten auf einem Quadratmeter.

Alarmierend für die Forscher ist allerdings nicht nur der weitere Rückgang ohnehin seltener Arten. „Besonders besorgniserregend ist der Niedergang bei den Allerweltsarten“, berichtet Eichenberg. „Da alle Pflanzen aus Licht, Luft und Wasser Biomoleküle produzieren, bilden sie die Fundamente unserer Ökosysteme“, erklärt der iDiv-Forscher weiter.

Sie ernähren etwa Insekten, die ihrerseits Nahrung für Vögel sind. Bröckeln mit den Allerweltsarten also die Fundamente der Ökosysteme, beginnt leicht auch die Artenvielfalt bei Insekten und Spinnen zu schwinden. „Bei uns geht es inzwischen also ans Eingemachte“, sagt Eichenberg daher zum Rückgang der Artenvielfalt, der sich in dieser Studie deutlich abzeichnet.

Um diesen dramatischen Schwund alteingesessener Pflanzenarten zu stoppen, schlägt Jansen vor, die Unterstützung der Landwirte auf Maßnahmen zu mehr Artenreichtum umzuleiten. So könnte man Bauern fördern, die ihre Getreidefelder weniger stark düngen. „Dann kommt zwar eine Vielzahl anderer Unkräuter hoch, die zusammen aber nur wenig Schaden anrichten und die Ernte nur geringfügig mindern“, erklärt Jansen. Es scheint also durchaus Möglichkeiten zu geben, den dramatischen Artenrückgang in der Pflanzenwelt zu stoppen und sogar umzudrehen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false