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Tausendmal ist nichts passiert. Eine App soll helfen, jene Orte in der Stadt zu identifizieren, an denen es oft zu Beinahe-Unfällen mit Radfahrern kommt - um schweren Unfällen besser vorbeugen zu können.

© Daniel Bockwoldt/dpa

Die gefährlichsten Orte für Fahrradfahrer: App sammelt "Nahtoderlebnisse" beim Radfahren

Beinahe-Unfälle gehen in keine Statistik ein. Eine App der TU Berlin will das ändern – mit Hilfe radelnder Bürgerforscher. Ein Interview mit dem Entwickler.

Berliner Autofahrer sollen zum Umstieg aufs Rad bewegt werden. Umfragen zeigen aber, dass vielen die Straßen einfach zu unsicher sind. Die Statistik weist nur gemeldete Unfälle aus, keine Beinahe-Kollisionen. Das "Radmesser"-Projekt des Tagesspiegels dokumentiert, mit wie knappem Abstand Radfahrer mitunter von Autos überholt werden. David Bermbach vom Fachgebiet Mobile Cloud Computing der TU Berlin will noch weiter gehen und eine "Citizen Science"-App entwickeln, mit der sich die realen Gefahrenpunkte in der Stadt erkennen lassen, das Projekt „SimRa: Sicherheit im Radverkehr“.

Herr Bermbach, kann eine App die Berliner Straßen sicherer machen?

Indirekt hoffentlich schon. Vor allem wollen wir mit dem Projekt erst einmal Daten erheben. Dabei hilft die Technologie enorm. Man kann mit dem Smartphone ja viele Daten sammeln. Aber solange sie auf jedem einzelnen Handy bleiben, sind sie für eine Auswertung komplett nutzlos. Ich kann nur etwas damit anfangen, wenn sie gesammelt vorliegen.

Warum wollen Sie das gerade im Radverkehr testen?

Ich selbst bin leidtragender Radfahrer in Berlin. Ich fahre jeden Tag über die Kantstraße zu meinem Büro an der TU. Da ist immer viel los mit dichtem Überholen, Abdrängen, Reindrängeln. Unser Projekt wird gefördert aus einer Citizen-Science-Initiative der TU Berlin. Als nach Themen gefragt wurde, hatte ich am nächsten Tag mal wieder eines der vielen Nahtoderlebnisse auf dem Fahrrad. Ein Rechtsabbieger nahm mir die Vorfahrt und ich musste eine Vollbremsung hinlegen. So kam die Idee, Informationen über Beinahe-Unfälle zu sammeln.

Der Informatiker und Wirtschaftsingenieur David Bermbach ist seit Ende 2017 Juniorprofessor an der TU-Berlin und leitet das Mobile Cloud Computing am Einstein Center Digital Future
Der Informatiker und Wirtschaftsingenieur David Bermbach ist seit Ende 2017 Juniorprofessor an der TU-Berlin und leitet das Mobile Cloud Computing am Einstein Center Digital Future

© TU Berlin

Wie wollen Sie das messen?

In jedem Smartphone gibt es Beschleunigungssensoren. Der Wechsel von Hoch- auf Querformat oder die Funktion, dass das Handy stumm wird, wenn man es umdreht: Das läuft über solche Sensoren. Wenn ich Rad fahre, das Handy in der Tasche, und plötzlich den Lenker zur Seite reiße, dann zeichnen die Sensoren einen Ausschlag auf. Das sollten wir in den Sensordaten sehen.

Wie erkennt die App, ob es tatsächlich ein Beinahe-Unfall war oder ob jemand einfach nur den Bordstein hochgefahren ist?

Da brauchen wir die Mithilfe der Radfahrer. Die App wird die Fahrt mit GPS aufzeichnen. Dann merkt sich das Programm die Stellen, an denen es besondere Ausschläge gab. Im Anschluss an die Fahrt bitten wir den Nutzer, sich die Ergebnisse anzusehen und zu kategorisieren. Etwa so: Am ersten Punkt hat jemand die Tür aufgerissen, an der Kreuzung hat mich ein Laster geschnitten, und aus der Einfahrt ist mir ein Hund vors Rad gelaufen. Anhand von Häufungen wollen wir herausbekommen, wo es für Radfahrer gefährlich ist. Und nebenbei sammeln wir Informationen darüber, wo die Haupt-Radstrecken der Berliner sind. Auch darüber gibt es noch wenige Daten.

Wie ist der Zeitplan für die App?

Das Projekt ist gerade erst gestartet und läuft für drei Jahre. Zuerst müssen wir die App bauen, damit wir auf die Daten der Sensoren zugreifen können. Ziel ist es, einschätzen zu können, was ein relevantes Ereignis ist und was nicht. Was ist also die Schwelle der Auslenkung, die bei einem Beinahe-Unfall typischerweise auftritt? Und dafür brauchen wir viele Radfahrer, die die App nutzen.

Wie viele brauchen Sie, um verlässliche Daten zu bekommen?

Je mehr, desto besser. Niemand wird alle Fahrten aufzeichnen. Wenn man Lust hat, zeichnet man auf, und wenn man in Eile ist, lässt man es vielleicht sein. Schlussfolgerungen können wir schätzungsweise ab 50.000 Fahrten ziehen. Es passiert ja auch nicht bei jeder Fahrt etwas, und „zwei“ ist eben noch keine Häufung.

Wie wollen Sie genug Leute dazu bekommen, das Programm zu nutzen?

Wir sind optimistisch, weil die Radfahrerszene in Berlin sehr gut organisiert ist. Einerseits wollen wir an Organisationen herantreten, etwa die Initiative Volksentscheid Fahrrad und den ADFC. Andererseits wollen wir die Leute direkt ansprechen, zum Beispiel in Facebook-Gruppen.

Wann wird die App zum Download verfügbar sein?

Wir hoffen, dass wir in zwei, drei Monaten einen Prototyp haben, den Radfahrer ausprobieren können. Dafür suchen wir gerade Betatester. Die können auch mitentscheiden, wie die App später aussehen soll, damit man sie möglichst gerne benutzt. Ich hoffe, dass wir dann in einem halben Jahr eine erste Version zum Download für alle veröffentlichen können. Vorerst wird es die App allerdings nur für Android-Telefone geben.

Wenn so viele Daten erhoben werden: Wie stellen Sie deren Schutz sicher?

Wir wollen dem Nutzer möglichst wenig Datenvolumen klauen und andererseits den Datenschutz sehr wichtig nehmen. Die App wird nichts aufzeichnen, wenn man nicht vorher den Befehl dazu gibt. Nach der Fahrt lädt auch nichts automatisch hoch, sondern man kann den Zeitpunkt selbst bestimmen, etwa wenn man WLAN-Zugang hat. Wir werden niemanden tracken und die Fahrten auch nicht verknüpfen können, weil wir jede Fahrt einzeln pseudonymisieren. Der Nutzer behält die Hoheit über seine Fahrten. Er kann sie auch einfach löschen, wenn er sie nicht hochladen möchte, oder auch später, wenn er sie bereits hochgeladen hat.

Wo werden die Daten gespeichert?

Auf Servern der TU Berlin. Wir wollen sie zu zwei Stichtagen als öffentliche Datensätze veröffentlichen. Damit kann jeder sie einsehen und analysieren. Für das Verkehrswesen und die Stadtplanung könnte das zum Beispiel interessant sein, oder auch für Forscher in anderen Ländern, die eine ähnliche Studie durchführen wollen. Die App ist so gestaltet, dass man sie mit einigen Anpassungen grundsätzlich in jeder Stadt benutzen könnte.

„SimRa“ ist ein Citizen-Science-Projekt. Bürger liefern die Daten. Nehmen sie auch an der Auswertung teil?

Das ist das Ziel. Jeder ist eingeladen, die Daten gemeinsam mit Verwaltung und Forschern zu analysieren und zu überlegen, was die nächsten Schritte sein könnten. Auch die Auswertung soll innerhalb der Projektlaufzeit geschehen. Je mehr teilnehmen, desto eher können wir damit loslegen.

Welche Konsequenzen erhoffen Sie für Berlins Radverkehr?

Wenn man feststellt, dass es gewisse Hotspots von Beinahe-Unfällen gibt, muss man sich vor Ort anschauen, was die Gründe sind. Dann müssen Stadtplaner und Verwaltung entscheiden, ob sich etwas ändern muss. Muss man an einer bestimmten Stelle den Rad- vom Gehweg trennen, vor einer Kreuzung ein Parkverbot einführen oder überhaupt erst einen Radweg bauen? Und natürlich: Wo fahren die Berliner überhaupt lang? All das wissen wir nicht, und wir wollen die Daten liefern, um fundiert entscheiden zu können.

Angenommen, die App funktioniert gut: Wie könnte man sie weiterentwickeln?

Vielleicht ist es irgendwann möglich, die Zwischenfälle anhand der Sensordaten mit Hilfe von Machine Learning automatisch zu kategorisieren. Dann könnte man auf das Kommentieren durch die Nutzer verzichten. Oder man könnte eine App bauen, die Radfahrer in Echtzeit vor Gefahrenschwerpunkten warnt. Das hängt alles davon ab, was bei unseren Analysen herauskommt.

Wie wird die App eigentlich heißen?

Das wissen wir noch nicht, aber bis zum Betatest werden wir uns auf jeden Fall einen Namen ausdenken.

Hier können sich Interessierte für die Testversion registrieren lassen: lists.tu-berlin.de/mailman/listinfo/mcc-simra.betatest/

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