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Diskussionsstoff. Kann der Staat manchen Bürgern knappe Impfstoffe ohne gesetzliche Regelung vorenthalten?

© imago images/Laci Perenyi

Die einen bevorzugen, die anderen benachteiligen: Braucht es ein Gesetz für die Impfstoffpriorisierung?

Die Ständige Impfkommission hat Vorschläge zur Impfstoffverteilung vorgelegt. Aber nicht in allem folgt das Gesundheitsministerium dem Rat der Wissenschaft.

Nun soll alles ganz schnell gehen: Am Dienstagmorgen trat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor die Bundestagsabgeordneten im Gesundheitsausschuss, einziger Tagesordnungspunkt ist die Aussprache zum Beschlussentwurf zur Covid-19-Impfempfehlung.

Basis ist die Priorisierungsempfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) des Robert Koch-Instituts (RKI), die am Montag an Bundesgesundheitsministerium (BMG), Länder und diverse Verbände ging – mit der Bitte, „aufgrund der Eilbedürftigkeit der neuen Impfempfehlung“ bis Donnerstag Stellungnahmen abzugeben.

Erst dann werden die angepassten Stiko-Vorschläge in die Verordnung zur Impf-Priorisierung eingearbeitet, die im BMG noch im Entwurfsstadium ist, aber bereits im Dezember rechtskräftig werden soll.

Vom Entwurf zur Verordnung und zum Gesetz?

Gesprächsbedarf gab es durchaus: Etwa, ob es nicht doch eines Gesetzes bedarf, um so etwas Schwerwiegendes wie das Vorenthalten einer potenziell lebensrettenden Impfung gegenüber dem größten Teil der Bevölkerung rechtssicher und nicht anfechtbar durchzuziehen?

Bereits vor einem Monat legte eine Arbeitsgruppe aus Stiko, Leopoldina und Ethikrat ein grundlegendes Priorisierungspapier für Covid-19-Impfungen vor. Laut diesem sollen ältere und gesundheitlich vorbelastete Menschen, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und solche in grundlegenden Bereichen der Daseinsfürsorge zuerst geimpft werden.

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Diese Empfehlungen waren Grundlage für den Verordnungsentwurf, der am Freitag öffentlich wurde. Demnach sollen zwei Bevölkerungsgruppen zuerst geimpft werden: Menschen, die in Betreuungseinrichtungen tätig sind oder dort behandelt werden und solche, die ein „signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf haben“.

In beiden Fällen verweist der Entwurf darauf, dass für die nähere Definition von Betreuungseinrichtungen und gefährdeten Personen noch die Stiko-Empfehlung abgewartet werden soll. Bei der dritten im Verordnungsentwurf genannten Gruppe wird hingegen auf die noch abzuwartende Stellungnahme der Länder verwiesen: Hier geht es um die Schutzimpfungen für Personen „in zentralen Bereichen der Daseinsfürsorge“. In diese Grundstruktur müssen nun die Empfehlungen der Stiko und die Vorstellungen der Länder eingearbeitet werden.

Unterschiedliche Prioritäten bei der Priorisierung

In dem Stiko-Papier wird als erste zu impfende Teilpopulation folgender Personenkreis genannt: Bewohner von Senioren- und Altenpflegeheimen und das Personal, das in diesen Heimen in engem und häufigen Kontakt steht; Personal in medizinischen Einrichtungen mit engem Kontakt zu vulnerablen Gruppen, etwa in der Hämato-Onkologie oder der Transplantationsmedizin; und Personal mit „besonders hohem Expositionsrisiko“ wie etwa in Notaufnahmen oder in der Betreuung von Covid-19-Patienten.

Diese Menschen machen laut Berechnungen der Stiko nicht mehr als 3,5 Millionen Menschen aus. Ihre Zuordnung zu medizinischen oder Betreuungseinrichtungen bietet einen großen Vorteil: Sie könnten vor Ort von medizinisch geschultem Personal geimpft werden.

Den größten Teil der laut Stiko prioritär zu impfenden Menschen stellen indes die über 80-Jährigen. Von denen gibt es in Deutschland 5,4 Millionen – da sich von ihnen laut einer Tagesspiegel-Background-Umfrage fast 80 Prozent impfen lassen wollen, werden mit der höchsten Priorisierungs-Phase etwa vier Millionen Menschen eingeschlossen, die dann wahrscheinlich vorrangig in den gerade überall entstehenden Impfzentren geimpft werden müssten.

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Sobald die mit größter Priorität gekennzeichneten Personengruppen versorgt wurden, sollen laut Stiko weitere Personen „mit besonderen Risiken vorrangig geimpft werden“, wie es im Papier heißt. „Die Evidenz zu diesen Risikogruppen wird fortlaufend neu bewertet.“ Mit der zweiten Priorität „hoch“ werden Menschen zwischen 75 und 80 Jahren eingestuft, Patienten mit Demenz oder geistigen Behinderungen und das sie betreuende Personal sowie Mitarbeiter mit „hohem Expositionsrisiko“.

Die Priorität „moderat“ haben etwa Menschen zwischen 70 und 75, solche mit Vorerkrankungen und Tätige im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). „Erhöhte“ Priorität genießen dann unter anderem 65- bis 70-Jährige sowie Lehrerinnen und Erzieher.

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages empfiehlt eine gesetzliche Regelung

Dass sich die wissenschaftlichen Empfehlungen alles andere als passgenau in die vom BMG geplante Verordnung einfügen lassen, zeigt sich bei jenen Menschen, die im Stiko-Konzept „gering erhöhte“ Priorität haben: Neben 60- bis 65-Jährigen sind dies nämlich unter anderem „Berufsgruppen der kritischen Infrastruktur“, also zum Beispiel der Feuerwehr und der Polizei, die im Verordnungsentwurf des BMG hingegen eindeutig priorisiert werden, genau wie Mitarbeiter des ÖGD, die laut Stiko nur „moderate“ Priorität genießen.

Die gleichen Widersprüche zeichnen sich bei Menschen mit Vorerkrankungen ab, die laut Stiko nur „erhöhte“ Priorität haben, im Entwurf des BMG aber ganz oben genannt werden: Sie sollen, wenn sie ein signifikantes Risiko haben, nach den Vorstellungen des Ministeriums mit einem ärztlichen Attest eine Impfpriorität erhalten.

Wäre ein Priorisierungs-Gesetz nötig? Eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja. Abgeschlossen wurde die Arbeit am Freitag. „Der überwiegend vertretenen Auffassung, wonach die Priorisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen beim Zugang zu Impfstoffen eines förmlichen Gesetzes bedarf, das zumindest die wesentlichen Kriterien für die Verteilung eines knappen Impfstoffes regelt, ist zuzustimmen“, heißt es dort im Fazit.

„Die Möglichkeit, Impfschutz gegen Covid-19 erlangen zu können, ist für die gesamte Bevölkerung von enormer Relevanz, da alle gleichermaßen von der Ansteckungsgefahr und den daraus folgenden Einschränkungen im Alltag betroffen sind. Die Entscheidung, welche Bevölkerungsgruppen bei der Verteilung zunächst zu bevorzugen sind, weist eine hohe generelle Grundrechtsrelevanz auf und führt zu einer intensiven individuellen Betroffenheit.“

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