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Die Gletscher der Antarktis fließen – je dunkler das Rot, umso schneller – zum Südozean hin ab. Die Daten, basierend auf Radarmessungen aus dem Zeitraum 1996 bis 2016, zeigen durchschnittliche Werte und einen deutlichen Trend: immer weniger Eis.

© Bildquelle: Nasa

Die Antarktis: Der unbekannte Kontinent im Süden

Vor 200 Jahren erst wurde der sechste Kontinent entdeckt. Er spielt eine wichtige Rolle für den Planeten – und ist doch kaum verstanden.

Bis vor 200 Jahren war die Antarktis eine menschenleere Kältewüste. Wer das Land im tiefsten Süden zuerst entdeckte, ist nicht sicher belegt. Wahrscheinlich waren es Fabian Gottlieb von Bellingshausen, Michail Lasarew und ihre Gefährten zu Beginn des Jahres 1820. Im folgenden Jahr landeten die ersten Männer an: Robbenjäger. Seitdem kamen immer wieder Schiffe mit Fischern, Forschern und Abenteurern. Siedlungen wurden errichtet und Stationen, sogar am Südpol.

Gemessen an der Größe des Kontinents sind sie fast nichts; nehmen sich ähnlich winzig aus wie das Wissen über die Antarktis. Dabei spielt sie eine maßgebliche Rolle für die gesamte Erde: fürs Klima, den Anstieg des Meeresspiegels, der 300 Millionen Bewohner von Küstengebieten betrifft, für das Funktionieren von Ökosystemen, die die Menschheit mit Nahrung und Sauerstoff versorgen.

„Wir müssen das System verstehen, um beispielsweise sagen zu können, wo es Hotspots für Algen gibt, die Nahrung für Krill sind, der wiederum Futter für zahlreiche Fische ist“, sagt Julian Gutt vom Alfred-Wegener-Institut – Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Der Biologe kennt die Antarktis und meint: Trotz zahlreicher Satellitenmissionen und Expeditionen, die Daten vor Ort erheben, sind viele Fragen noch unbeantwortet.

„Wirklich verstanden haben wir das nicht.“

Zum Beispiel die, warum sich die Algen nicht gemäß Lehrbuch verhalten. Darin steht, dass sie nahe des Eisrandes besonders gut wachsen und sich vermehren. Weil dort im Frühjahr Schmelzwasser ins Meer gelangt, das eine geringere Dichte hat und damit eine stabile Schichtung ermöglicht: Es gibt weniger Umwälzungen im Wasser, die Algen bleiben oben, bekommen mehr Licht und gedeihen besser, steht in den Büchern. „In der Realität beobachten wir manchmal diesen Effekt und manchmal nicht“, sagt Gutt. „Wirklich verstanden haben wir das nicht.“

Die Algen sind nicht nur für die Nahrungsketten im Südozean entscheidend. Sie setzen zudem große Mengen Kohlendioxid um und produzieren Sauerstoff. Weltweit erzeugen die Einzeller rund die Hälfte des lebenswichtigen Gases. Für den AWI-Wissenschaftler ist das Grund genug, zu erforschen, wie die Ökosysteme der Antarktis funktionieren und was sich infolge des Klimawandels verändert.

Vor allem das Eis nimmt beträchtlich ab, was mit drei verschiedenen Methoden belegt ist. Dazu gehören die „Grace“-Satellitenmissionen, die Veränderungen des Erdschwerefelds und damit Massenverluste registrieren, Vermessungen der Geländeoberfläche sowie ein zunehmendes Tempo der Eisströme, das teils mehrere Kilometer pro Jahr erreicht. Demnach trug das Abschmelzen des Antarktischen Eises zwischen 1992 und 2017 zu einem Meeresspiegelanstieg zwischen 0,15 und 0,46 Millimetern im Jahr bei. Zwischen 2012 und 2017 beschleunigte sich das Geschehen, der Anteil betrug nun zwischen 0,49 und 0,73 Millimeter im Jahr.

Der Westantarktische Eisschild taut rapide

Die große Spanne der Daten zeigt die Unsicherheiten, die für die künftige Entwicklung umso größer sind. Während der größere Ostantarktische Eisschild noch stabil ist, taut der kleinere Westantarktische rapide. Vor allem Pine Island-, Thwaites- und weitere Gletscher, die in die Amundsensee münden, fließen schneller und ihre Eisdecke wird dünner. Forscher vermuten, dass dies mit einer warmen Tiefenströmung im Ozean zusammenhängt, die nun verstärkt in die flachen Schelfgebiete drückt.

Dort schmilzt das warme Wasser von unten das Gletschereis. Dadurch verlieren die Eismassen zunehmend Bodenkontakt gleiten nun „mit gelöster Handbremse“ umso schneller ins Meer, worauf Gletschereis vom Festland nachkommt. Ein weiterer Prozess, der bereits in früheren Warmperioden der Erdgeschichte eine Rolle gespielt haben dürfte, wird von manchen Forschern auch bei der aktuellen Erwärmung erwartet: Wasser dringt in tiefe Eisspalten ein, befördert dort Brüche, sodass die steilen Kliffs kollabieren und der Eisverlust ebenfalls beschleunigt wird.

Vor allem der zweite Prozess lässt sich in Modellierungen kaum abbilden, berichten Frank Pattyn von der Universität Brüssel und Mathieu Morlighem von der Universität von Kalifornien in Irvine im Fachmagazin „Science“. Das erschwere Vorhersagen, wie viel Eis verloren geht und wie stark der Meeresspiegel in verschiedenen Erwärmungsszenarien steigen wird. Die Forscher fürchten, dass selbst bei abnehmenden CO2-Emissionen bestimmte Regionen wie etwa der Thwaites-Gletscher ihren Kipppunkt überschreiten und deren Rückzug beträchtlich und unumkehrbar sein wird.

Mit einem Kollaps ist zu rechnen

Steigen die Emissionen weiter – und dies ist nach dem Ende der pandemiebedingten „Pause“ zu erwarten – muss mit einem Kollaps des Westantarktischen Eisschilds gerechnet werden, was den Meeresspiegel um mehrere Meter steigen ließe. Wann dieser Fall eintritt, dazu machen die Modellierungen unterschiedliche Angaben, schreiben Pattyn und Morlighem.

Alle kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass dies in den kommenden Jahrhunderten geschehen wird, wenn der Klimawandel weitergehe. Nach bisherigem Forschungsstand darf die durchschnittliche Lufttemperatur ab jetzt nur noch um 1,5 bis 2 Grad steigen, um die Antarktischen Eismassen stabil zu halten.

Ob der Befund zutreffend ist und vor allem, wie die Antarktis in den nächsten Jahrzehnten auf den globalen Wandel reagiert, dafür sind weitere Forschungen nötig. Wo die Schwerpunkte liegen sollten, haben bereits 2014 Wissenschaftler aus 22 Ländern im Scientific Committee on Antarctic Research (SCAR) zusammengetragen. Ihre Empfehlung beinhaltet neben naheliegenden Themen wie Eisverlust und Klima auch die Ökosysteme. Lange Zeit galt die Antarktis und der umgebende Ozean als isoliert und artenarm.

Die Antarktis als Modell für Astrobiologen

Erst jüngere Studien hatten gezeigt, dass es etwa bei Krebstieren zahlreiche Spezies gibt, die in vielfältigen Beziehungen zu anderen Lebewesen stehen. Die Anpassung an die Kälte, aber auch an aktuelle Veränderungen wie steigende Temperaturen und Versauerung der Meere gelten als vielversprechende Forschungsfelder.

Astrobiologen, die zur Lebensfreundlichkeit anderer Himmelskörper forschen, lernen ebenfalls in der Antarktis. Flechten, die in den trocken-kalten Tälern wachsen, gelten als Modellorganismen für Leben auf dem Mars, das dort vielleicht einmal existierte und womöglich bis heute tief im Boden überdauert hat. Ebenso sind die Seen viele hundert Meter unter dem Eis interessant: Sie enthalten verschiedenste Mikroorganismen, die unter extremen Bedingungen überleben. Könnte es, so fragen die Forscher, in den verborgenen Ozeanen der Jupiter-Eismonde namens Europa, Kallisto und Ganymed ebenfalls Leben geben?

Auch die Astrophysik haben die SCAR-Fachleute als Wissenschaftsthema notiert. Die kalte, trockene und oft ruhige Atmosphäre am Südpol eignet sich gut für Teleskope. Zudem ist das Eis sehr klar, sodass Neutrinos – energiereiche Teilchen aus dem All – mithilfe des „IceCube“-Detektors gemessen werden können. Damit können Astrophysiker die extremen Zustände nahe Schwarzen Löchern studieren.

Im Herbst zogen die Fachleute eine Fünf-Jahres-Bilanz, ob die Forschungsziele bezüglich der Antarktis erreicht wurden. Demnach sind sie in vielen Fällen auf gutem Wege, doch seien mehr Beobachtungsdaten erforderlich, schreiben sie im Journal „One Earth“. Die harschen Bedingungen auf dem eisigen Kontinent und die große Entfernung erschwerten die Forschungen. Obwohl die Satellitentechnik immer besser werde, seien Aufenthalte vor Ort notwendig. Um Referenzen zu schaffen für die Messdaten der Beobachter aus der Höhe, die dann eine korrekte Interpretation ermöglichen.

Mehr Langzeitbeobachtungen nötig

„Zudem ist zu beachten, dass Satelliten zum Beispiel nur Algen in den obersten Zentimetern der Wassersäule erfassen“, sagt Gutt. Um den Gehalt in der Tiefe zu ergründen, seien Messungen vom Schiff aus nötig – und zwar nicht nur an wenigen Punkten und wenn das Wetter einigermaßen gut ist. „Wir benötigen mehr Langzeitbeobachtungen, um Veränderungen zu dokumentieren, mindestens über mehrere Jahreszeiten, wenn möglich über Jahre hinweg“, sagt der Biologe. „So können wir wirklich verstehen, was in der Antarktis im Detail passiert und welche Auswirkungen das für die gesamte Erde hat.“

Das heißt, dass auch künftig viele Forscherinnen und Forscher den sensiblen Kontinent bereisen werden, neben den Touristen. Deren Zahl stieg binnen vier Jahren um rund die Hälfte auf 53.000 in der Saison 2018/2019. Damit wächst die Gefahr, dass über verschmutzte Stiefel oder Geräte ortsfremde Arten eingeschleppt werden. „Meist verschwinden sie bald wieder, weil es schlicht zu kalt ist, um sich zu vermehren und damit zu etablieren“, sagt Gutt.

Wenn jedoch auch in der Antarktis die Temperaturen steigen, könnten es umso mehr Pflanzen und Tiere schaffen, sich dauerhaft einzurichten und damit die Ökosysteme verändern. Es sind jedoch nicht nur die invasiven Spezies, um die sich der AWI-Biologe sorgt. „Die vielen Besucher bedeuten Stress für den empfindlichen Lebensraum.“ Alle wollten zu den bilderbuchschönen Pinguin- oder Robbenkolonien, sagt Gutt. „Das ist einfach zu viel.“

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