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Corona als Chance - Graffito in München.

© Peter Kneffel / dpa

Deutscher Soziologie-Kongress: Gesellschaft unter Spannung

Auf dem Gipfeltreffen der deutschen Soziologenszene werden die gesellschaftlichen Umbrüche der Gegenwart diskutiert – auch mit Blick auf die Coronakrise. 

Seit Beginn der Pandemie sind soziologische Gesellschaftsanalysen so gefragt wie lange nicht. Mit dem Erstarken verschwörungsideologischer Krisennarrative wächst auch das Bedürfnis, die vom Virus infizierte Gesellschaft sozialwissenschaftlich zu durchdringen. Da ist es keine Überraschung, dass der 40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der mit dem Thema „Gesellschaft unter Spannung“ an den Start ging, voll im Zeichen der Coronakrise stand.  

Als einzige Live-Veranstaltung des ansonsten digitalen Gipfeltreffens der deutschen Soziologenszene war ein Podiumsgespräch der Theoriegrößen Martina Löw, Harmut Rosa und Andreas Reckwitz angesetzt. In komprimierter Form präsentierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre gesellschaftstheoretischen Zeitdiagnosen.

Dabei ging es weniger um eine bloße Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation, als mehr um allgemeine Umbruchprozesse, die für die Spätmoderne kennzeichnend sind – und die durch Corona beeinflusst werden.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem NewsblogÜber die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden]

Kollektive Entschleunigung

So untersucht der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa das gegenwärtige Krisengeschehen vor dem Hintergrund seiner Beschleunigungs- und Resonanztheorie. Die globalen Reaktionen auf die Virusverbreitung hätten zum ersten Mal in der jüngeren Vergangenheit eine kollektive Entschleunigung bewirkt. Dabei gehe es ihm nicht um eine nostalgiebedingte Verklärung der Folgen seuchenpolitischer Bevölkerungspolitiken, sondern um die schlichte Tatsache eines „seismografisch messbaren Bewegungsrückgangs“.

Rosa erklärt, die Coronakrise habe zu einer Verlangsamung des kinetischen Profils einer in Dauerrotation befindlichen Menschheit geführt. Die plötzliche Vollbremsung der spätmodernen Gesellschaften – die sich Rosa zufolge nur „dynamisch zu stabilisieren“ vermögen, also einem permanenten Wachstums- und Erneuerungszwang unterliegen – eröffne indes ungeahnte Handlungsperspektiven. So erlebten wir aktuell etwas, das systemtheoretisch gedacht eigentlich gar nicht möglich sei – nämlich ein Handeln der Gesellschaft im Ganzen.

Der Soziologe Hartmut Rosa.
Hartmut Rosa ist Leiter des Kollegs Postwachstumsgesellschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

© Promo

Anders als die Systemtheorie häufig unterstelle, sei nicht in Stein gemeißelt, dass gesellschaftliche Subsysteme ihre autonomen Handlungslogiken in Endlosschleife wiederholen müssen. „Wir haben eine Veto-Playerfunktion. Die Gesellschaft ist eben doch in der Lage, politisch als Ganze zu handeln.“ Erst jedoch, wenn der übliche Operationsmodus, in dem jede Institution von selbst funktioniere, ins Stocken gerate, könnten sich Gesellschaften neu organisieren, meint Rosa. Nun sei jedenfalls die Möglichkeit gegeben, Alternativen zum Dogma des Wachstums zu entwickeln.

Kein Algorithmus für die Zukunft

„Nur eine fundamentale Krise der Gesellschaft, die sämtliche Lebensbereiche betrifft, kann einen Wandel des Ganzen einleiten.“ Da es keinen Algorithmus für die Zukunft gebe, sollten sich Sozialwissenschaftler allerdings mit futurologischen Prognosen zurückhalten. Die Gesellschaft sei in großen Krisenmomenten eben alles andere als festgelegt. Frei nach Hannah Arendt komme es jetzt weniger auf das Wissen als vielmehr auf das Handeln an, so Rosa. „Ein Grundvermögen des Menschen besteht darin, einen neuen Anfang zu machen, nicht leben zu müssen, wie man bisher gelebt hat.“

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Der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz analysiert das Coronageschehen vor dem Hintergrund eines umfänglicheren Krisenpanoramas, das ökonomische, soziokulturelle und psychologische Aspekte umfasst. Womit die Moderne, und ganz besonders ihre zugespitzte Form, die Spätmoderne, zu kämpfen habe, sei das Spannungsverhältnis zwischen einem programmatischen Fortschrittsversprechen auf der einen und realen Verlusterfahrungen auf der anderen Seite.

Fortschritt sei der Fluchtpunkt der Moderne, ein „zeitliches Erwartungs- und Bewertungsschema“, das in verschiedenen Lebensformen jeweils unterschiedlich ausgestaltet sei. Sowohl im Narrativ der kapitalistischen Ökonomie als auch in den Erzählungen des Sozialismus erscheine die Geschichte als ein zielgerichtetes Entwicklungsgeschehen. Das Morgen soll das Heute überbieten – so laute das verhängnisvolle Grundmotiv unseres Zeitalters.

Verluste als blinder Fleck der Moderne

In der Spätmoderne radikalisiert sich dieses Denken Reckwitz zufolge deshalb, weil die Fortschritts- und Optimierungsidee von der institutionellen auf die individuelle Ebene übergeht. Wer an der fortlaufenden Selbstoptimierung versagt, wird dafür selbst verantwortlich gemacht. Der blinde Fleck der Fortschrittsperspektive sind die realen oder empfundenen Verluste der Menschen, die sich als lebendige Kollateralschäden einer im Wortsinn rücksichtslosen Erneuerungsdynamik begreifen.

Das Fortschrittsversprechen der Moderne produziert auch Verlusterfahrungen, meint der Soziologe Andreas Reckwitz.
Das Fortschrittsversprechen der Moderne produziert auch Verlusterfahrungen, meint der Soziologe Andreas Reckwitz.

© Sven Hoppe / dpa

Die Verluste und Enttäuschungen – nicht zuletzt auch die pandemiebedingten ökonomischen, sozialen, kulturellen und räumlichen Einbußen – laufen Gefahr, sich in Gewalt umzustülpen. Ein zentraler Widerspruch der Moderne sei dabei, dass sie systematisch Verlusterfahrungen hervortreibe, aber für das Erlebnis, konkret oder symbolisch als Verlierer dazustehen, kein legitimes Ausdrucksmittel kenne. So plädiert Andreas Reckwitz, auch vor dem Hintergrund von Corona und der anrollenden Klimakatastrophe – die uns einer optimistischen Zukunftserzählung beraubt – für eine Soziologie erlebter Verluste.

Anders als ihre beiden Kollegen, nimmt die Berliner Soziologin Martina Löw in ihrer Gesellschaftsanalyse weniger eine temporale als vielmehr eine räumliche Perspektive ein. So habe der weltweite Gebrauch digitaler Technologien unsere Vorstellung von Räumen und unsere Orientierung in der Welt radikal verändert. 

Flüssige Netzwerke vs. festes Territorium

Die verstärkte Tendenz zu Transnationalisierung und fluider Netzwerkbildung auf der einen habe eine Renationalisierung und die Sehnsucht nach festem Territorium auf der anderen Seite zur Folge. In der Pandemie erlebten wir zwar, dass unsere Mobilität eingeschränkt und nationale Grenzen aufgewertet würden.

Zugleich aber habe die Zirkulation des Virus über alle Grenzen hinweg gezeigt, wie verflochten die Welt heute sei. Die Spätmoderne ist Löw zufolge durch ein Neben- und Gegeneinander verschiedener Raumlogiken und den Konflikt von ortsgebundenen „Somewheres“ und freischweifenden „Anywheres“ geprägt.

Dass Gesellschaften zugleich homogener und heterogener würden, erzeuge überall Spannungen. Für ein genaueres Profil der Gegenwart und ihrer Widersprüche müssten diese sich lokal unterschiedlich äußernden Spannungsverhältnisse in globaler Perspektive untersucht werden.

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