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Demonstranten in Chemnitz schwingen Deutschland-Fahnen.

© dpa

Deutscher Historikertag in Münster: Raus aus der Komfortzone

Der Deutsche Historikertag behandelt das hochaktuelle Thema „Gespaltene Gesellschaften“. Die Zunft streitet über Positionierungen gegen die extreme Rechte.

Die Zersplitterung der Öffentlichkeit, die nunmehr auch in Gewalt umschlage, sei „eine Gefahr für die Demokratie“, mahnte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seiner Eröffnungsrede zum 52. Deutschen Historikertag. Es sei geboten, „den Anfängen zu wehren“. Doch über die viel beschworenen „Anfänge“ ist Deutschland, ist die Welt wohl schon lange hinaus. Das jedenfalls kann man den Ausführungen von Historikern, Soziologinnen und Politikwissenschaftlern entnehmen, die in Münster zum Thema „Gespaltene Gesellschaften“ vortragen und diskutieren.

Als der Historikertag vor über einem Jahr geplant wurde, sagt Eva Schlotheuber, Vorsitzende des deutschen Historikerverbandes, sei das Ausmaß an gesellschaftlicher Spaltung noch nicht in gleicher Weise augenfällig gewesen, wie das heute der Fall sei. Mittlerweile habe es „erschreckende Aktualität“. Das Moment der gespaltenen Gesellschaft wurde in Münster vornehmlich historisch, in allen Formen und Epochen, behandelt. Die aktuellen Spaltprozesse in Deutschland, Europa und der Welt bilden nur einen kleinen Teil des Programms. Dennoch stellen sie für die diesjährige Tagung den Referenzrahmen dar.

Die "Komfortzone" verlassen und für Demokratie kämpfen?

„Chemnitz 2018“ hat grelle Schlaglichter auf einen lange vernachlässigten Umstand geworfen, den man vorher vielleicht noch verdrängen konnte: Die Demokratie ist kein selbstlaufendes Programm, kein transhistorischer Dauerzustand. Derzeit wird sie von einem breiten Bündnis rechter Gruppierungen massiv und unverhohlen angegriffen. So stellten sich Teile der historischen Zunft in Münster die selbstkritische Frage, ob man die eigene „Komfortzone“ nicht endlich verlassen und mit geschichtswissenschaftlichen Mitteln gegen das Erstarken von Rechtsradikalismus und Demokratiefeindlichkeit ankämpfen müsse.

Auf Initiative der Göttinger Zeitgeschichtlerin Petra Terhoeven und ihres ebenfalls in Göttingen lehrenden Kollegen Dirk Schumann aus der Neueren und Neusten Geschichte, haben 15 namhafte Historiker die Frage nach der Interventionsnot denn auch entschieden bejaht. In einer gemeinsamen Resolution warnen sie vor den derzeit maßlosen und grundstürzenden Angriffen auf die politische Ordnung und die dem Grauen der Geschichte abgerungenen zivilisatorischen Leitlinien. Dabei solle die Resolution mehr als ein einmaliges Aufbäumen sein, so Terhoeven bei einer Podiumsveranstaltung in Münster. Vielmehr plane man ein langfristiges Engagement. So könne die Öffentlichkeit in der aktuellen Lage von der historiografischen Zunft eine klare Positionsbestimmung verlangen.

Geschichte des "Drittes Reichs" unmissverständliche Mahnung

„Als Historiker halten wir es für essenziell, auf die Gefährdungen für die Demokratie in diesem aktuellen Moment hinzuweisen“, erklärten Schumann und Terhoeven. Geschichtswissenschaft habe schließlich auch die Aufgabe, durch konkrete Analysen historischer Prozesse zu einer umfassenderen Wahrnehmung von Gegenwartsproblemen beizutragen. Dies gelte nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer intensiven Beschäftigung des Faches mit der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus. Letzterer habe auf Konstitutionen gefußt, die die Würde des Menschen grob missachteten. Schon in der Weimarer Republik habe eine Bewegung, die vorgab, den Volkswillen zu vertreten, der Terrorherrschaft den Weg geebnet. Dieser Ungeist finde auch heute in Teilen der Gesellschaft wieder Anklang.

So mahnte Dirk Schumann stellvertretend für die Mitverfasser der Resolution, humanitäre Grundsätze, das Recht auf politisches Asyl und die Pflicht zur Hilfeleistung ernst zu nehmen. Die Geschichte zeige ferner auf, dass Migration keineswegs „die Mutter aller Probleme“, sondern ein historischer Normalzustand und die Vorstellung homogener Container-Gesellschaften vollkommen absurd sei.

Nicht von ungefähr ist das heute weltweit in Bedrängnis geratene Asylrecht eine historische Konsequenz aus der Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Nazidiktatur. Die Geschichte des "Dritten Reiches" sei unmissverständliche Mahnung, betonen die Wissenschaftler. Einer neuerlichen Geschichtsklitterung, „alternativen Fakten“ und der von den Gaulands und Höckes geforderten „Wende in der Erinnerungspolitik“ muss man der Münsteraner Resolution zufolge energisch und konsequent entgegentreten.

Erinnerung an Resolutionen des Realsozialismus

Gleichzeitig wird auf dem Historikertag jedoch deutlich, dass bei Weitem nicht alle deutschen Geschichtswissenschaftler die politische Relevanz der Historiographie in gleicher Art bewerten wie die Göttinger Kollegen. So wandte der Potsdamer Osteuropahistoriker Jan Behrends auf dem Podium ein, er finde es falsch, seine Zunft über das Bekenntnis zum Grundgesetz hinaus auf gemeinsame politische Richtlinien zu eichen. Das von Terhoeven initiierte Papier erinnere ihn wenigstens entfernt an jene Resolutionen des Realsozialismus, die seinerzeit das fröhliche Einvernehmen der Wissenschaft proklamiert hätten.

Der Trierer Historiker Lutz Raffael stellte zudem den Nutzen einer solchen Resolution infrage und bezeichnete den Text als „oberlehrerhaft“. Was man jedoch klarstellen müsse, sei, unter welchen Voraussetzungen man die wichtige Praxis der Geschichtswissenschaft überhaupt ausüben könne und durch welche politischen Entwicklungen die Freiheit der Forschung gefährdet sei. Das Bekenntnis zur Demokratie ist demnach schon aus purem Selbsterhaltungstrieb der freien Wissenschaft notwendig.

Die nächste Auflage des Historikerstreits - eine Frage der Zeit

Dass die Mitglieder der Historikerzunft in politischer Hinsicht den unterschiedlichsten Lagern angehören, war in Münster dann ebenfalls Thema. So diskutierte das Podium mit dem Publikum die Frage, wie man mit Revisionisten und Schlussstrich-Apologeten in den eigenen Reihen umzugehen habe. Uffa Jensen vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) machte klar, er gehe leider davon aus, dass der Geschichtswissenschaft selbst eine Art Spaltung und mithin ein harter Dissens in Grundlagenfragen bevorstehe. So könne die AfD inzwischen auf große Summen an Stiftungsgeldern zurückgreifen, die sie sicher auch einsetzen werde, um zukünftige Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaftler in ihrem Sinne auszubilden. Man müsse sich also darauf einstellen, dass auch im Fach selbst bald mit härteren Bandagen gekämpft werde. Die nächste Auflage des Historikerstreits scheint so nur eine Frage der Zeit zu sein.

Ob der Aufschwung der Neuen Rechten eine Gefahr für die Demokratie darstellt, war auch in weiteren Sektionen des Historikertages ein viel besprochenes Thema. So warfen der Potsdamer Politikwissenschaftler Gideon Botsch und die Historiker Frank Bösch, Axel Schildt und Ulrich Herbert die Frage auf, was an der Neuen Rechten von heute denn eigentlich das Neue und Besondere sei. Der Freiburger Professor Ulrich Herbert sagte, neu seien weniger die Inhalte – ein extremer Nationalismus, juden- und fremdenfeindliche Einstellungen und antimodernistisch-antiliberale Positionen, die die Rechte immer schon ausgezeichnet hätten – als vielmehr die Organisationsformen.

Geschichtswissenschaft muss nach Ursachen des Rechtsrucks forschen

Die Rechte ist demnach viel versierter und besser organisiert als noch vor einigen Jahren. Wirklich bedrohlich aber sei, dass die Nationalkonservativen sich zunehmend den verschiedenen Gruppen des völkischen Lagers öffneten und eine immer breitere Front bildeten. Gideon Botsch erklärte, die rechten Angriffe bedrohten die Demokratie gleich in mehrerlei Hinsicht. Auf der parlamentarischen Ebene müssten sich die klassischen Parteien heute mit einer Fraktion befassen, deren Ziel womöglich kein parlamentarisches Regieren mehr sei. Eine weitere Dimension sei die massive Mobilisierung rechter Gruppen auf der Straße und die zunehmende Vergiftung des Diskurses.

Darüber hinaus seien eine sich abschließende Gegenöffentlichkeit medialer Netzwerke und ein eskalierendes Gewaltpotenzial zu verzeichnen, sagte Botsch. Dadurch sei das Leben von als „anders“ markierten Menschen massiv bedroht und eingeschränkt. Der Zeitgeschichtler Axel Schildt ergänzte, er gehe nicht davon aus, dass die rechte Konjunktur alsbald wieder abebben werde. So sei das durch die Globalisierung bedingte Konglomerat aus Abstiegs- und Bedrohungsängsten, das dem rechten Denken einen Nährboden bereite, nicht mal eben aus der Welt zu schaffen.

Was die Geschichtswissenschaft anpacken müsse, so Schildt, sei eine ausgeprägte Ursachen- und Grundlagenforschung. Denn hier befinde man sich leider noch immer auf wackligem Grund. Das liege nicht zuletzt an einer „Schaumkronenfixierung“, die meist bloß die extremsten Ausschläge der rechtsideologischen Praxis beforsche.

Die Geschichts-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften haben demzufolge, genauso wie die Politik, mittel- und langfristig einiges zu tun. Der 52. Deutsche Historikertag hat sich auf die Fahnen geschrieben, über Expertenzirkel hinaus in die Gesellschaft hineinzuwirken, und die Geschichtswissenschaft als aktueller denn je ausgewiesen. Denn nur auf der Grundlage wissenschaftlich fundierter Aufklärung über die Geschichte ist es nach Petra Terhoeven und Dirk Schumann möglich, die historischen Voraussetzungen der Demokratie auch künftig im öffentlichen Bewusstsein zu halten.

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