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Gruppenfoto mit Minister*innen und Experten, die Berichtsbände der Pisa-Studie in den Händen halten.

© Wolfgang Kumm/dpa

Deutscher Abstieg bei der Pisa-Studie: Lernt endlich, kein Kind zurückzulassen!

Die Hausaufgabe für Bund und Länder lautet jetzt, endlich Verantwortung für die schwächsten Lerner zu übernehmen. Ausgrenzen gilt nicht mehr. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Amory Burchard

Der Nikolaus aus der Bildungsdirektion der OECD in Paris hat eine Verwarnung in den deutschen Nikolausstiefel gesteckt. Die aktuellen Pisa-Ergebnisse sind seit Dienstagmorgen öffentlich - und sie sind erschütternd. Im Lesen sei die Entwicklung im Vergleich zum Schwerpunkt 2009 noch positiv, aber abflachend, in Mathematik und Naturwissenschaften zunehmend negativ, musste sich Bundesbildungsministerin Anja Karliczek von den Organisatoren der weltweit größten Schülerleistungsstudie sagen lassen.

Bei allen erwartbaren Relativierungen, die vor allem daraus resultieren, dass andere Länder sich auch verschlechtert haben, steht fest: Bei Pisa geht es für Deutschland nach einem allmählichen Aufstieg wieder bergab. Eine deprimierendere Botschaft kann es für Kinder, Jugendliche, Eltern, Lehrkräfte und ihre Schulen wohl kaum geben. War alles umsonst? Waren alle Anstrengungen nach dem Pisa-Schock angesichts der ersten Studie vor 18 Jahren vergebens?

Sicher nicht. Aber Deutschland muss jetzt erfahren, dass ein dauerhafter Aufschwung, gar der Weg in die Spitzengruppe der internationalen Bildungsnationen, unmöglich ist, ohne auch die schwächsten Schüler auf die Reise mitzunehmen. Die Bundesbildungsministerin hat recht, wenn sie konstatiert: Die aktuellen Pisa-Ergebnisse passen nicht zu dem Anspruch, kein Kind zurückzulassen.

Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg

Seit 2001 hatte der Pisa-Schock in Deutschland einen positiven Nachhall. Deutschland nur im Mittelfeld der weltweiten Schülerleistungen? Das durfte im Land der Dichter und Denker nicht sein. Vergleichsweise schnell einigten sich die Kultusminister und -ministerinnen der 16 Bundesländer auf gemeinsame Bildungsstandards in den Kernfächern. Andere Reformen vom Ausbau der frühkindlichen Bildung bis zur weitgehenden Abschaffung des sozial segregierenden dreigliedrigen Schulsystems brachten Schwung in das ebenso selbst- wie klassenbewusste deutsche Bildungssystem.

Und tatsächlich gelang ein moderater Aufschwung. Bis zur fünften Pisa-Studie von 2012 erreichten die 15-Jährigen hierzulande immerhin das obere Mittelfeld. Wieder drei Jahre später kam indes die ernüchternde Diagnose, dass die Schülerleistungen in allen drei Testbereichen – Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften – stagnieren.

Ein Befund hat Deutschland bei alledem begleitet: In wenigen anderen OECD-Ländern ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg so eng wie hierzulande. Den Schulen gelingt es nicht, vor allem die für alle Fächer ausschlaggebenden sprachlichen Defizite von Kindern aus bildungsfernen Familien – seien sie mit oder ohne Migrationshintergrund – auszugleichen. An dieser Diagnose hat sich auch in der Phase des Aufschwungs kaum etwas geändert.

Privilegierte Schüler haben Lernvorsprung von vier Jahren

Doch jetzt ist die Schere noch weiter aufgegangen, die sozial privilegiertesten Schüler haben im Schnitt einen Lernvorsprung von vier Jahren. Verschlechtert haben sich die Schülerleistungen vor allem an den Schulformen unterhalb des Gymnasiums – wenn diese schlechter ausgestattet und vom Lehrkräftemangel betroffen sind. Bedenklich gewachsen ist auch die Gruppe der Schüler, die nur auf dem untersten Kompetenzniveau oder darunter lesen und rechnen können.

Diese Bildungskatastrophe auf „die Migranten“ und eine verstärkte Heterogenität durch den Zuzug aus mehr Weltregionen als zuvor abzuwälzen, wäre allzu populär. Es ist ausgrenzend, den Migrantenanteil aus den Pisa-Ergebnissen herauszurechnen. Denn auch Kinder und Jugendliche, die mit Türkisch oder Arabisch aufwachsen, sind von hier.

Deutscher Pass oder nicht: Deutschland muss die Verantwortung für alle Schülerinnen und Schüler übernehmen. Koste es, was es wolle: eine endlich an der Schulrealität ausgerichtete Lehrkräfteausbildung, mehr Professuren für interkulturelle Bildung und Sprachbildung. Und ja, es braucht auch mehr Geld, um Lehrkräfte in der Klasse nicht alleine zu lassen, sondern sie in ein multiprofessionelles Team einzubinden, das jede auch noch so bunte Klasse rockt.

Neue Chance für den Nationalen Bildungsrat

Aber wen kann man dafür verantwortlich machen, dass dies nicht schon lange geschehen ist? „Die Bildungspolitik“? Da verteilt sich die Verantwortung schön auf 16 Länderministerien und auf eine Bundesbildungsministerin, die in der Bildung nur wenig zu sagen hat. Soeben wurde die Chance verspielt, die Problemzonen des deutschen Bildungssystems im Nationalen Bildungsrat doch noch gemeinsam anzupacken – mit dem Rat von Experten aus der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft sowie Elternvertretungen. In der Verantwortung stehen nun die, die ihn aufgekündigt haben. Der neue Pisa-Schock vom Dezember 2019 muss sie dazu bewegen, dem Bildungsrat und damit neuem (Auf)Schwung eine Chance zu geben.

Das deutsche Bildungssystem hat die Rute bekommen. Für die Kinder aber dürfen ab sofort nur Apfel, Nuss und Mandelkern in den Stiefel – oder Baklava, Bildung und ein unwiderstehliches Jugendbuch.

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