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Porträt Heinrich von Kleists und historische Ausgaben seiner Werke in einem Bücherregal.

© Patrick Pleul/picture alliance/dpa

Deutsche Dramatiker: Die Germanistik entdeckt Kleist und Schiller neu

Der Klassiker Friedrich Schiller und der Außenseiter Heinrich von Kleist? Die beiden Dramatiker verbindet mehr, als die Germanistik lange wahrhaben wollte.

Persönlich begegnet sind sie sich wohl nie, die Zeitgenossen Friedrich Schiller (1759-1805) und Heinrich von Kleist (1777-1811) – anders als ein früher Biograf Kleists, Eduard von Bülow, 1826 behauptete. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum die beiden Kanonautoren in der germanistischen Forschung bislang nur selten in einem Atemzug genannt werden. Lange galten Schiller und Kleist als literarische Gegenpole. Hier der berühmte Vertreter der Weimarer Klassik, dort der irrlichternde Außenseiter, der sich keiner Strömung so richtig zuordnen lässt. Die Sache schien klar: Die beiden trennt mehr als sie verbindet.

Doch stimmt das überhaupt? Oder wurde nur nicht präzise genug hingeschaut? Diese Fragen diskutierten Kleist-Expertinnen und -Experten jetzt bei der Jahrestagung der Kleist-Gesellschaft an der Freien Universität Berlin. „Kleist und Schiller: Auftritt der Moderne“, so hatte die Organisatorin und FU-Literaturwissenschaftlerin Anne Fleig die Veranstaltung überschrieben, die erstmals in Kooperation mit der Deutschen Schillergesellschaft stattfand.

Kleist hat seinen Schiller genau gelesen - und zitiert

Kleist hat, davon zeugen unter anderem seine wenigen erhaltenen Briefe, Schiller sehr genau gelesen. Claudia Benthien, Germanistikprofessorin aus Hamburg, zeigt in einer akribischen Gegenüberstellung, wie ähnlich sich beispielsweise Schillers 1801 uraufgeführte „Jungfrau von Orleans“ und Kleists 1808 entstandene „Penthesilea“ sind – nicht nur auf dramaturgischer Ebene, sondern bis in die Formulierungen hinein. So verwendet Schiller an einer Stelle das damals kaum gebräuchliche „hohnlachend“; Kleist macht daraus einen „Hohnlächelnden“.

Der Umgang des Jüngeren mit dem Werk des 18 Jahre älteren Kollegen ist enorm kreativ: Kleist zitiert, imitiert, ironisiert, entwickelt weiter. „Ein spannungsgeladener Austausch“ sei das, sagt Benthien, geprägt von „Dialogizität und Rivalität“. In Kleists Spätwerk gäbe es viele Spuren von Schiller. Punktuell wurde das durchaus schon entdeckt, „aber systematisch und übergreifend hat das noch niemand untersucht“.

Aber darf der Blick nur von Kleist in Richtung Schiller fallen – oder lassen sich auch umgekehrt Verbindungen entdecken? Schiller hat, davon geht die Forschung aus, Kleists Texte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekannt. 1803 erscheint Kleists Erstlingswerk, das Drama „Die Familie Schroffenstein“, zunächst anonym. Uraufgeführt wird das Stück 1804 in Graz, allerdings ohne großen Erfolg. Schon 1805 stirbt Schiller. „Faktisch konnte sich Schiller nicht mehr auf Kleist beziehen“, sagt Anne Fleig. Trotzdem sieht sie auch für eine wechselseitige Erforschung beider Autoren viel Potenzial. Man könne nach strukturellen Ähnlichkeiten suchen, nach Parallelitäten bei Themen und Einflüssen.

Die Shakespeare-Lektüre verbindet Schiller und Kleist

„Was passiert mit dem Drama um 1800, welche politischen Umbrüche erleben beide, was haben sie aus gemeinsamen Lektüren gemacht?“ Shakespeare ist einer der Fixpunkte, die für beide bedeutsam sind. Auch die sozialphilosophischen Theorien von Adam Smith (1723-1790), das verdeutlicht ein Vortrag von Christian Moser aus Bonn, können als Ausgangspunkt für vergleichende Interpretationen dienen. Dorothea von Mücke, Literaturwissenschaftlerin an der Columbia University in New York, weist außerdem auf die um 1800 sehr beliebte Virginia-Legende hin, die sowohl Schiller als auch Kleist in ihre Dramen einweben.

Angesichts der vielfältigen Überschneidungen erscheint es verwunderlich, dass die Literaturwissenschaft eine so scharfe Trennlinie zwischen Kleist und Schiller gezogen hatte. Anne Fleig erklärt das mit der Rezeption um 1900. „Damals wird Kleist als moderner Autor entdeckt und gefeiert.“ Der Dramatiker und Erzähler wird aus der Versenkung geholt und auf den Sockel gehoben. Von einer regelrechten „Kleist-Inthronisierung“ spricht Literaturwissenschaftlerin Anna-Lena Scholz. 1911, anlässlich des 100. Todestags, wird erstmals ein großes Kleist-Jahr gefeiert.

Schiller dagegen ist der Autor des 19. Jahrhunderts gewesen – dauerpräsent, permanent aufgeführt, hundertfach gefeiert. „Es gibt einen wahren Schillerkult im 19. Jahrhundert“, sagt Fleig. Als „Nationaldichter" ist Schiller längst staatstragend. Denkmäler zieren das ganze Land. Schiller-Zitate sind zu Bonmots geworden. Das führt bei den jungen Autoren der Jahrhundertwende zu Überdruss. Und wer ließe sich gegen einen angestaubten Klassiker besser in Stellung bringen als ein verkanntes Genie, dessen Radikalität und Modernität ihm zu Lebzeiten wenig literarische Anerkennung eingebracht hatte? „Kleist gilt um 1900 als Anti-Klassiker“, erklärt Günter Blamberger, der langjährige Präsident der Kleist-Gesellschaft.

Zeit, Schubladen aufzubrechen und neu zu forschen

Diese Zuschreibung hält sich hartnäckig und bestimmt im 20. Jahrhundert die wissenschaftliche Auseinandersetzung. „In der germanistischen Philologie entstand die Konstruktion der literarischen Moderne“, erklärt Fleig. Und die begreife Kleist als ihren Anfang. Kleist wird nun vor allem als Vordenker und Wegbereiter gelesen. Die Bezüge zu Aufklärung und Klassik werden dagegen kaum untersucht. Fleig findet, dass es an der Zeit ist, diese Schubladen aufzubrechen und sich Forschungsfragen zuzuwenden, die Kleists Werk in neue Kontexte stellen. Die Chancen dafür stehen gut: „Beim wissenschaftlichen Nachwuchs gibt es ein großes Interesse an Heinrich von Kleist.“

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