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Henrietta Lacks und ihr Mann David

© Familie Lacks

Der Umgang mit HeLa-Zellen: Henriettas Erbe

Henrietta Lacks war arm und ungebildet. Durch ihren Krebs wurde sie 1951 unfreiwillig zur Mutter der modernen Medizin. Ihre Familie fragte niemand - bis jetzt.

Stellen Sie sich vor, jemand schickt heimlich Proben Ihres Erbgutes an eine Firma und lässt sie sequenzieren. Ein Bericht kommt zurück, mit guten Nachrichten (sie werden wahrscheinlich 100 Jahre) und schlechten (hohes Risiko für Alzheimer und Depressionen). Die Auswertung wird ohne Ihre Erlaubnis offen ins Internet gestellt. Mit Ihrem Namen.

Nichts anderes ist nun Familie Lacks passiert, schrieb Rebecca Skloot im März in der „New York Times“. Ausgerechnet jener Familie, deren Matriarchin Medizingeschichte schrieb, ohne davon zu ahnen.

Die Geschichte beginnt am 6. Februar 1951, im Johns-Hopkins-Krankenhaus in Baltimore. Für Henrietta Lacks war es ein Land, dessen Sprache sie nicht verstand. Hier flogen ihr Begriffe wie „Cervix“ um die Ohren. Henrietta konnte kaum lesen und schreiben. Biologie oder gar Latein hatte ihr nie jemand beigebracht. In ihrem Alltag mit fünf kleinen Kindern störte das nicht. Nun fand sie sich wegen eines bösartigen Knotens auf der Krankenstation für farbige Frauen wieder. Kein Gott in Weiß machte sich die Mühe, sein Tun für die Patientinnen zu übersetzen. Henrietta beruhigte ihren Mann und ihre Kinder. Sie brauche nur ein bisschen Medizin. „Nichts Schlimmes.“

"Kein Mangel an medizinischem Material"

Im OP dehnte der diensthabende Chirurg ihren Gebärmutterhals, um den Krebs besser sehen zu können. Er schob ein Röhrchen mit Radium hinein und nähte es fest – damals war das die modernste Krebstherapie, die es gab. Zuvor schnitt der Chirurg zwei münzgroße Stücke von Henriettas Gebärmutterhals und dem zerklüfteten, dunkelrot glänzenden Tumor ab. Er schickte die Proben an das Labor von George Gey. Gey hatte sich – bislang erfolglos – der Suche nach unsterblichen Zellen verschrieben.

Niemand hat Henrietta gefragt, ob sie ihre Zellen der Forschung zur Verfügung stellen möchte. Ihre Ärzte wären nicht einmal auf den Gedanken gekommen. „Das Hopkins mit seinem großen Bestand mittelloser Farbiger hatte keinen Mangel an medizinischem Material“, schrieb einmal Henriettas Arzt. Wenn die Behandlung schon kostenlos war, dann sollten die Patienten wenigstens der Forschung nützen.

Henrietta tat mehr als ihren Teil. Ihre Zellen überlebten nicht nur außerhalb des Körpers. Sie teilten sich aller 24 Stunden. Die erste unsterbliche menschliche Zelllinie war geboren. Begeistert schickte Gey Proben mit der Aufschrift HeLa (die Anfangsbuchstaben des Namens Henrietta Lacks) an Labore in aller Welt.

Henrietta wurde nur 31 Jahre alt, ihre Zellen arbeiten seit 62 Jahren in den Laboren

Obwohl es Krebszellen sind, teilen sie viele Eigenschaften gesunder Zellen: die Funktionsweise von Genen, ihre Übersetzung in Eiweiße, den Nährstoffhaushalt – all das kann man mit HeLa untersuchen. HeLa half bei der Entwicklung eines Impfstoffes gegen Kinderlähmung. Die Zellen wurden mit Masern, Tuberkulose und mit HIV infiziert, sie wurden bei Atombombentests bestrahlt und in den Weltraum geschickt. Der erste Klon war eine HeLa-Zelle. Es war eine zufällig angefärbte HeLa-Zelle, die den Blick auf die menschlichen Chromosomen freigab. Die Liste ist endlos. Könnte man alle jemals gezüchteten HeLa-Zellen aneinanderreihen, würden sie die Erde dreimal umspannen.

Was für die Forschung ein Glücksfall war, war für die Familie Lacks eine Tragödie. Die Tumorzellen zerfraßen Henriettas Körper innerhalb weniger Monate. Sie starb am 4. Oktober 1951, mit 31 Jahren. Ihre Zellen leisten der Medizin seit 62 Jahren unschätzbare Dienste.

Die Familie erfuhr davon erst 20 Jahre nach ihrem Tod, als Wissenschaftler auch Henriettas Kinder untersuchen wollten. Wieder erklärten sie nicht genau, was sie wollten. Erst Rebecca Skloot, die die unendliche Geschichte in einem Bestseller zusammengefasst hat („Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks“, 2010 bei Irisiana), baute Brücken zwischen Familie und Forschern. Als sie im März sah, dass Wissenschaftler des Europäischen Molekularbiologie-Laboratoriums in Heidelberg das HeLa-Genom in einem Fachjournal veröffentlicht und ins Netz gestellt hatten, rief sie bei Familie Lacks an. „Haben sie Euch gefragt?“ „Nein.“

Eine Kollision der grundlegendsten Werte medizinischer Forschung

Sie haben damit gegen kein Gesetz verstoßen. Sie meinten es nicht böse. Es war höchste Zeit, das HeLa-Erbgut zu entschlüsseln. Ein zweites Team um Jay Shendure von der Universität von Washington in Seattle analysierte das Erbgut und seine Aktivität noch genauer.

Es war eine Kollision der zwei grundlegendsten Werte der medizinischen Forschung – das Teilen der Daten und der Schutz der Probanden, sagt der Direktor der Nationalen Gesundheitsinstitute der USA (NIH), Francis Collins. Heute werden Patienten gefragt, ob sie zum Beispiel Blut oder Gewebe der Medizin zur Verfügung stellen möchten. Die Proben werden anonymisiert. In diesem Fall lag kein Einverständnis vor. Und Millionen Menschen wissen, wer sich hinter dem Code HeLa verbirgt. Bald werden es noch mehr sein: Talkmasterin Oprah Winfrey produziert einen Film.

Collins bat die Forscher um Geduld und traf sich drei Mal mit Vertretern der Lacks-Familie – im Johns-Hopkins-Krankenhaus, wo alles begann. Sie haben eine Lösung gefunden. Wer HeLa-Zelllinien sequenziert, soll sie die Informationen nun in einer NIH-Datenbank hinterlegen. Über den Zugang zu den Daten entscheidet eine neue Arbeitsgruppe, zu der zwei Nachkommen von Henrietta Lacks gehören. Wer sein Vorhaben vorab umreißt, Henrietta kurz würdigt und später die Ergebnisse mitteilt, soll alle Informationen bekommen. So bleibt die Familie auf dem Laufenden. „Wir sind nicht gegen Wissenschaft“, sagt David Lacks jr. „Wir wollen nur etwas Kontrolle über die Daten und was sie über uns verraten.“

Patienten als Partner

Collins hofft, dass sich auch jene Forscher an die Vereinbarung halten, die kein Geld vom NIH bekommen. Das Heidelberger Team war sofort einverstanden. „Das hier ist ein Einzelfall“, sagt Collins. „Aber wir können daraus lernen, Patienten als Partner zu begreifen.“

Die genaue Analyse des Genoms birgt nicht nur Gefahren für die Familie Lacks. Sie erhellt auch, was mit Henrietta passiert ist. Sie hatte sich mit Humanen Papillomviren (HPV-18) angesteckt, schreiben Shendure und seine Kollegen jetzt in „Nature“. Das Virus hat sein Erbgut ausgerechnet in der Nähe eines Krebsgens eingebaut. Vermutlich war der Tumor deshalb so aggressiv, die Zellen so langlebig. So langlebig, dass in den 80-er Jahren auch der spätere Nobelpreisträger Harald zur Hausen mit ihnen arbeitete. Er entwickelte eine Impfung gegen HPV.

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