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Legal, illegal, egal. Die Legalisierung würde die Aufklärung Jugendlicher erleichtern, sagen die einen. Andere fürchten, dass der Konsum steigt.

© Eldad Carin, Fotolia

Debatte zur Legalisierung von Cannabis: Zwischen Rausch und Risiko

Cannabis kann das Gehirn Jugendlicher dauerhaft schädigen. Das zeigt eine Studie nach der anderen. Ob sie jedoch durch ein generelles Verbot der Droge besser geschützt sind, ist unter Experten umstritten.

Den Reisenden fasziniert das fremdartige Ambiente in den Häusern seiner ägyptischen Gastgeber. Berauschen lässt er sich davon nicht. Er analysiert nüchtern, welche Vorkehrungen die Menschen hier treffen, um sich unbeschwert dem Genuss von Cannabis hinzugeben: „Wer im Orient Haschisch konsumiert, um sich der Trunkenheit der Fantasie zu überlassen, verwendet viel Mühe darauf, alles von sich fernzuhalten, was das Delirium zur Melancholie führen und andere als süße und einnehmende Gefühle erregen könnte.“

Diese Umsicht sei bitter nötig, schreibt der französische Nervenarzt Jacques-Joseph Moreau 1846 in seinem Buch „Vom Haschisch und der mentalen Entfremdung“. Denn die Droge habe eine Kehrseite, wie er während mehrjähriger Reisen beobachtete: „In allen Dingen neigt der Geist dann zur Übertreibung: Der kleinste Impuls schafft es meist, ihn dorthin zu ziehen.“ Im von ihm geleiteten Pariser „Club des Hachichins“, dem Künstler und Kreative wie Alexandre Dumas und Charles Baudelaire angehörten, wurden die Studien später im Selbstversuch gewissenhaft fortgesetzt. Vor jedem Diner der Freunde führten sich alle einige Löffelchen einer Paste zu, in die sie Harz der Cannabispflanze gemischt hatten. Der Doktor wachte über die Dosis.

Immerhin waren die Klubmitglieder gestandene Mannsbilder. Ähnlich soll es im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg geregelt werden, wenn es nach der Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann geht. Coffeeshops sollen in Zukunft nur an registrierte Erwachsene begrenzte Mengen Cannabis verkaufen dürfen. So steht es in einem Antrag an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, den Herrmann am 26. Juni unterzeichnete.

Regelmäßige Nutzer schnitten in Gedächtnistests schlechter ab

Gegner einer regulierten Freigabe sind dennoch besorgt. Für Heranwachsende kann das in Haschisch – dem Harz der Blütenstände der Pflanze – und Marihuana – ihren getrockneten Blüten und Blättern – enthaltene Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) gefährlich werden. Vor allem für das reifende Gehirn, wie eine Fülle von Studien zeigt. Der jüngste Beleg dafür wurde im März im Journal „Hippocampus“ veröffentlicht: 97 junge Erwachsene wurden im MRT untersucht, einige von ihnen hatten als Teenager Erfahrungen mit Cannabis gemacht, andere nicht. Bei denjenigen, die mit 16 oder 17 Jahren täglich Marihuana konsumierten, hatte sich die Form des seepferdchenförmigen Hippocampus verändert. Die Hirnstruktur trägt entscheidend dazu bei, dass Erinnerungen gespeichert werden. Tatsächlich schnitten die ehemals regelmäßigen Cannabis-Konsumenten in Gedächtnistests schlechter ab als ihre Altersgenossen. Und das, obwohl sie mindestens zwei Jahre kein Marihuana zu sich genommen hatten. Junge Erwachsene mit der Diagnose Schizophrenie, die als Teenager gekifft hatten, waren in den Tests sogar um ein Viertel schlechter als ebenfalls erkrankte junge Erwachsene ohne diese Vorgeschichte.

Ein strenger Beweis dafür, dass die Droge das Defizit verursacht, ist damit nicht erbracht. Es stellt sich die alte Frage nach Henne und Ei. „Möglicherweise zeigen die auffälligen Hirnstrukturen eine zuvor bestehende Anfälligkeit für Marihuana-Missbrauch an“, sagt Studienautor Matthew Smith, Psychiater an der Northwestern-Universität in Chicago. Allerdings war der Hippocampus umso auffälliger, je länger die Drogen Teil des Alltags waren. Das spricht dafür, dass das Kiffen sie verursachte. Die Auswirkungen können ganze Biografien verändern. Wenn Jugendliche bereits kifften, wenn sie noch keine 17 Jahre alt waren, war ihr Risiko, die Schule abzubrechen, um 64 Prozent erhöht. Das zeigt eine im Fachblatt „Lancet Psychiatry“ erschienene Studie des australischen Epidemiologen Edmund Silins aus dem Jahr 2014.

Während der Pubertät baut sich das Gehirn um - und ist anfällig für Störungen

Cannabis ist vor allem für Jugendliche nicht harmlos“, sagt Derik Hermann von der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim. In der Lebensphase der Adoleszenz, in der aus Kindern Erwachsene werden, werden Milliarden von Nervenverbindungen gekappt, neu geknüpft und in effektivere Netzwerke eingebunden. „Während der Pubertät steuern körpereigene Endo-Cannabinoide Reifung und Umbauvorgänge des Gehirns“, sagt Hermann. Cannabis störe dieses Feintuning empfindlich. Das könne zu dauerhaften strukturellen Veränderungen im Gehirn führen.

Mittlerweile ist wissenschaftlich gesichert, dass regelmäßiger Cannabis-Konsum das Risiko für eine Psychose um das Zwei- bis Vierfache erhöht. Aber auch hier ist es schwierig, Ursache und Wirkung zu benennen. „Offensichtlich gibt es gemeinsame Risikofaktoren für das Auftreten einer Psychose und für Cannabiskonsum. Zum Beispiel ein psychisches Trauma in der Kindheit oder eine genetische Belastung. Die Häufung von Psychosen in diesem Personenkreis kann also nicht nur durch Cannabinoide erklärt werden, sondern auch durch diese anderen Risikofaktoren“, sagt er.

Steigt der Konsum mit der Legalisierung?

Die statistischen Zusammenhänge haben den Sozialmediziner Matthew Hickmann von der Universität Bristol zu folgender Rechnung angeregt, die 2009 in der Fachzeitschrift „Addiction“ veröffentlicht wurde: 1360 bis 3260 Cannabis-Konsumenten müssten das Kiffen sein lassen, um einen Psychose-Fall zu verhindern. Die Droge kann außerdem eine beginnende Psychose verschlimmern. Paradoxerweise setzen Betroffene sie genau in dieser Situation häufig in Selbstmedikation ein, um ihre akuten Symptome zu lindern. Tatsächlich hat Cannabidiol, neben THC ein zweiter wichtiger Inhaltsstoff der Pflanze, antipsychotische und angstlösende Eigenschaften. Neuere Züchtungen enthalten jedoch weniger davon.

13 Prozent der Schüler haben Cannabis probiert. Die meisten belassen es dabei

Rund 13 Prozent der deutschen Schüler haben schon einmal Haschisch oder Marihuana probiert, wenn sie in der neunten oder zehnten Klasse sind. Die meisten belassen es dabei, wie die Europäische Schülerstudie zu Alkohol und anderen Drogen belegt, in die Schüler aus 40 Ländern einbezogen wurden. 1,4 Prozent der 15- bis 16-Jährigen in Deutschland zeigen jedoch ein „problematisches Konsummuster“: Sie kiffen zur Sorge ihrer Eltern und Lehrer zum Beispiel schon morgens vor der Schule und wenn sie allein sind. Aus der Gewohnheit kann eine psychische Abhängigkeit werden. Vier bis sieben Prozent brauchen später eine Therapie. Wer kifft, ist oft auch vom Nikotin abhängig und hat tabakbedingte Folgen zu befürchten.

Was tun? Für Rainer Thomasius vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf ist das Cannabis-Verbot ein unverzichtbares Element der Vorbeugung. Dass Aufklärungsprogramme (Verhaltensprävention) längst nicht so gut wirken wie praktische Erschwernisse (Verhältnisprävention), zeigten legale Drogen wie Alkohol und Nikotin. Die Quoten riskanten Alkoholgebrauchs sind um das Zehnfache höher als beim Cannabis, die der regelmäßigen Raucher um das Vierfache. Strengere Gesetze und Preiserhöhungen bei den Zigaretten und das Verbot der Alkopops hätten zwar etwas gebracht, sagt Thomasius. „Trotzdem geraten Jugendliche an Alkohol und Tabak.“

Die Befürchtung, dass mit der Legalisierung der Konsum steigen würde, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen. Zwar ist er in den Niederlanden mit ihrer liberaleren Gesetzgebung bei jungen Leuten erkennbar höher – doch niedriger als in Frankreich, wo auf Cannabis-Konsum harte Strafen stehen. Verbote hätten in den letzten 50 Jahren ihr erklärtes Ziel nie erreicht, heißt es in dem Papier „Cannabis. From Prohibition to Regulation“ des europäischen Projekts „Alice Rap“ (Addiction and Lifestyles in Contemporary Europe – Reframing Addiction Project). Aus älteren Erfahrungen mit der Prohibition, etwa dem Alkoholverbot in den USA in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, sind kaum Lehren zu ziehen. „Es gibt keine guten Daten, die den Erfolg oder Misserfolg der Prohibition belegen würden“, resümiert Peter Neu, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Jüdischen Krankenhaus Berlin.

Es ist doch alles nicht so schlimm, sagen die Patienten

Derik Hermann tritt für einen Mittelweg ein. Cannabis sollte legal gekauft werden können – aber nur von Erwachsenen und unter strengen Regeln. „Unter den jetzigen Verbotsbedingungen kaufen Jugendliche ohne Alterskontrolle von zweifelhaften Dealern eventuell verunreinigtes Cannabis. Und das völlig unkontrolliert“, gibt er zu bedenken. Die Legalisierung bietet seiner Ansicht nach zumindest die Chance, Jugendliche besser zu schützen als heute.

Sein Kollege Rainer Thomasius widerspricht. In den US-Bundesstaaten Colorado und Washington konkurrierten der legale und der illegale Markt. Im April 2015 gab es außerdem einen beispiellosen Anstieg der Anrufe in Giftzentralen wegen Gesundheitsproblem wie Herzrasen, Übelkeit und Verwirrtheit von Nutzern synthetischer Cannabinoide, meldete die amerikanische Seuchenbehörde CDC. „Es sind immer mehr Produkte mit hohen Konzentrationen auf dem Markt, die Händler wenden sich immer offensiver an Kinder und Jugendliche, für die sich die Situation verschärft.“ Wenn Erwachsene eine Substanz straffrei kaufen dürfen, dann beeinflusse das bei Kindern und Jugendlichen die Meinungsbildung negativ, sagt Thomasius. „Das sehen wir täglich. Es ist alles nicht so schlimm, sagen unsere Patienten. Sonst würde ja nicht überlegt, Cannabis zu legalisieren.“

Das Konsumverhalten werde sich nicht ändern, wenn Cannabis in Deutschland legalisiert wird, meint dagegen Kirsten Müller-Vahl, Psychiaterin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Doch es werde leichter, Jugendliche sachlich über die Wirkungen der Droge aufzuklären, wenn sie in der Schule und gegenüber Therapeuten offen über ihre Erfahrungen sprechen können. „Ich finde es paradox, dass wir die schädlichere Droge Alkohol erlauben.“

"Der wahre Künstler braucht nur seine natürlichen Träume"

Das Verbot verursache unnötige Kosten und binde Ressourcen, behaupten die Befürworter einer Liberalisierung. „70 Prozent der Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz sind Cannabis-bezogen, die meisten werden eingestellt“, gibt Christian Hanke zu bedenken, Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte. Ohne Verbot würde der Staat viel Geld sparen, obendrein würde die organisierte Kriminalität geschwächt. Ein System regulierter Abgabe bedeutet für ihn, „die gesellschaftliche Realität zu akzeptieren“. Wissenschaftlich belegt ist die erhoffte Ersparnis nicht. Eine australische Studie aus dem Jahr 2014 zeigt, dass Summa summarum die Kosten für die Länder bei beiden Lösungen – striktes Verbot oder Verkauf unter bestimmten Auflagen – etwa gleich sind.

Gegner des Verbots haben noch ein juristisches Argument. Sie bezeichnen Cannabis-Besitz als ein „opferfreies Delikt“. Aus medizinischer Sicht kann man noch weiter gehen: Das Opfer ist – Delikt hin oder her – in vielen Fällen der Täter selbst, vor allem der minderjährige, heranwachsende. Welche Lösung schützt ihn oder sie wirkungsvoller, Verbot oder Legalisierung unter strengen Auflagen? Nachdem der Suchtmediziner Peter Neu sich durch fast alle einschlägigen Studien gekämpft hat, kann er nur sagen: „Meine Haltung dazu ist neutral.“

Damals in Paris haben einige Mitglieder des „Club des Hachichins“ übrigens nach einem Dutzend Treffen ganz von allein die Lust an der „trunken machenden Droge“ verloren. „Nicht, dass sie uns physisch geschadet hätte“, beruhigte der Schriftsteller Théophile Gautier in der Zeitschrift „La Revue des Deux Mondes“ seine Leser. „Der wahre Künstler braucht nur seine natürlichen Träume, er liebt es nicht, wenn sein Denken unter dem Einfluss irgendeines Mittels steht.“

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