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Wissenschaft bedarf einer Lizenz zum Unberechenbaren, sagt Peter-André Alt.

© picture alliance / Waltraud Grub

Debatte um die Rolle von Hochschulen: Wissenschaft benötigt Distanz zur Gesellschaft

Es wäre fatal, wenn man Wissenschaft programmatisch darauf ausrichtete, die Lebenswelt direkt zu lenken oder politische Debatten zu befeuern. Ein Gastbeitrag.

Hochschulleitungen haben es in diesen Tagen schwer mit der Öffentlichkeit. Die einen sehen in der studentischen Störung einer Vorlesung den Untergang der akademischen Freiheit, die anderen fordern Auftrittsverbote für Redner, deren politische Meinung ihnen nicht passt.

Manche rufen nach Polizeiaktionen, die den sicheren Hochschulbetrieb garantieren sollen; anderen geht es um gesellschaftliche Debatten als Ausdruck wissenschaftlichen Engagements.

Universitätspräsidenten können es in dieser Situation niemandem recht machen. Greifen sie zu Sicherheitsmaßnahmen, so werden sie als reaktionär beschimpft; lassen sie alles laufen, dann verstoßen sie gegen die zentrale Pflicht, einen geregelten Hochschulbetrieb zu gewährleisten.

Aus Anlass studentischer Störungen, die sich gegen die Vorlesungen des AfD-Gründers Bernd Lucke in Hamburg richteten, hat Hamburgs Universitätspräsident Dieter Lenzen mit wünschenswerter Klarheit interveniert. In einem Beitrag für den Tagesspiegel erinnerte er daran, dass es Aufgabe der Wissenschaft nicht sein kann, sich an politischen Debatten zu beteiligen.

Wissenschaft produziere Erkenntnisse, keine Meinungen, so Lenzen. Und Universitäten obliege es primär, diese Erkenntnisse in Lehre und Forschung zu ermöglichen.

"Engagierte Interventionen" der Wissenschaft? Das wäre falsch

Es lässt sich nicht bestreiten, dass wissenschaftliche Einsichten gesellschaftliche Prozesse beeinflussen können. Ja, es ist auch denkbar, dass sie selbst zum Gegenstand von Meinungsstreitigkeiten werden - in den jeweiligen Disziplinen ebenso wie unter Laien. Aber es wäre fatal, wenn man Wissenschaft gleichsam programmatisch darauf ausrichtete, die Lebenswelt direkt zu lenken oder politische Debatten zu befeuern.

Hier sind Absicht und Wirkung sehr genau zu unterscheiden. Zwar kann wissenschaftliche Forschung Einfluss auf die öffentliche Diskussion gesellschaftlicher Werte und politischer Fragen nehmen. Doch darf sie intentional auf diesen Einfluss niemals zielen, will sie ihren objektiven - im Wortsinn: sach- und gegenstandsbezogenen - Erkenntnisanspruch nicht an das Meinungsgeschäft preisgeben.

Daher wäre es auch falsch, die Wissenschaft ihrerseits mit Forderungen nach 'engagierten' oder 'politischen' Interventionen zu belegen. Denn für ihre Fragestellungen, Methoden und Lösungsangebote ist nichts fataler als eine Funktionalisierung im Dienste sei es noch so ehrenwerter gesellschaftlicher Zwecke. Spätestens dann, wenn diese Zwecke nicht mehr ehrenwert sind, wird erkennbar, dass die Subordination der Wissenschaft unter politische Programme zu gefährlichen Konsequenzen führt.

Wissenschaft benötigt Distanz

Wissenschaft benötigt Distanz zur Gesellschaft, um ihren gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen. Das ist nur scheinbar eine Paradoxie, vielmehr ein produktiver Grundsatz. Allein dann, wenn Wissenschaft sich auf ihre Gegenstände konzentriert, ohne sich vor den Karren externer Zwecke spannen zu lassen, kann sie ihre Qualitäten entfalten.

Der Autor: Peter-André Alt ist Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Zuvor war er Präsident der Freien Universität Berlin.
Der Autor: Peter-André Alt ist Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Zuvor war er Präsident der Freien Universität Berlin.

© David Ausserhofer/HRK

Das bedeutet kein Überwintern im Elfenbeinturm und auch keine soziale Isolation. Allein durch die von ihr bearbeiteten Fragestellungen hat die Wissenschaft Bezug zu den drängendsten gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit. Aber Experimente, offene Hypothesen und Prozesse der szientifischen Urteilsbildung verlangen Freiräume des Denkens.

Kreativität und Originalität wird blockiert

Wer vorher genau festlegt, was worüber geforscht und gedacht wird, blockiert Kreativität und Originalität. Wissenschaft bedarf der Zuschreibung von Freiheit, gewissermaßen einer Lizenz zum Unberechenbaren, ohne die sie nie auskommen kann. Zwingt man sie zu bestimmten Themen, Methoden und Lösungsmustern, so schränkt man nicht nur ihre Kreativität ein. Man blockiert das wissenschaftliche Denken an seinem Nervenpunkt, der Fähigkeit nämlich, die Pluralität unserer Welten zu durchschauen und ihre verschiedenen Versionen in Alternativen zu durchdenken.

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Die Freiheit, die Staat und Gesellschaft der Wissenschaft zubilligen, gibt diese wieder zurück: als Lizenz zu Debatten über ihre Resultate und zum Streit über die Lösungen, die sich aus ihren Befunden ableiten lassen. Genau hier endet die Wissenschaft, und es beginnt das Terrain der meinungs­gestützten Diskurse und Dispute. Sie können, ja müssen zuweilen politisch sein – bei Fragen des Klimawandels, der künftigen Energiepolitik, der sozialen Integration, der medizinischen Ethik, der Genforschung und vielen weiteren Themen.

Nichts ist so schlimm wie ungenaues Denken

Nichts ist so schlimm für öffentliche Diskussionen wie ungenaues Denken, aus dem sich falsche Erwartungen ableiten. Auch dort, wo es um Freiheit geht, benötigt man Regeln. Dazu gehört, dass politische Meinungsäußerungen an Hochschulen in einen wissenschaftlichen Diskurs eingebettet werden sollten. Wer akademische Institutionen für die Zwecke von Parteien nutzt, missbraucht die Autonomie der Wissenschaften.

Aus diesem Grund hat die Freie Universität Berlin, die ich acht Jahre als Präsident leiten durfte, Auftritte von Politikern nur akzeptiert, wenn sie in Lehrveranstaltungen oder Forschungskolloquien integriert waren. Dieser Grundsatz bietet die Gewähr dafür, dass die hochschulische Öffentlichkeit nicht für Wahlkampf und Meinungskampagnen missbraucht wird. Und sie sorgt für klare Verhältnisse, denn sie unterstreicht den Vorrang des Wissenschaftlichen vor Fragen der politischen Positionierung.

Wenn akademische Freiheit zur Beliebigkeit oder Ideologie gerät

Akademische Freiheit ist kein Selbstzweck. Sie dient der Ermöglichung unabhängiger Forschung und Lehre. Löst man sie aus diesem Zusammenhang, dann gerät sie entweder zur Beliebigkeit oder zur Ideologie. Beliebig wird Freiheit dann, wenn sie sich in einer Haltung des Alles-Laufenlassens bekundet; ideologisch dann, wenn sie nicht mehr die Freiheit anderer Positionen einschließt.

Die wissenschaftliche Freiheit verpflichtet zur rationalen Auseinandersetzung mit abweichenden Erkenntnissen. Das schuldet sie ihrem Anspruch, Wahrheitssuche zu betreiben. In diesem und nur in diesem Punkt ist sie vorbildgebend auch für die Freiheit der Gesellschaft, die sich durch die Freiheit Andersdenkender definieren sollte.

Peter-André Alt

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