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Wissen: Das Dirndl als Text

Seit es die Samuel-Fischer-Gastprofessur an der FU gibt, geschehen rund um die Literatur aufregende Dinge

Von Oliver Lubrich

Was machen ein verwundetes Zebra, ein bengalischer Tiger und ein seekranker Orang-Utan in einem winzigen Rettungsboot auf hoher See? Die Antwort findet sich in dem jüngst erschienenen Roman „Life of Pi“, verfasst von dem 1963 in Spanien geborenen kanadischen Autor Yann Martel. Als Diplomatensohn hat Martel die Welt früh bereist, hat längere Zeit in Costa Rica, Frankreich und Mexiko gelebt. Dabei ist dem gefeierten Schriftsteller eines aufgefallen: Es gibt in der modernen Literatur kaum eine Auseinandersetzung mit Tieren. So verwundert es nicht, dass der diesjährige Samuel-Fischer-Gastprofessor die Studenten und sich selbst mit dem Tier konfrontieren möchte. „Meeting the Other: the Animal in Western Literature“ lautet das Thema seines Seminars, das Martel in diesem Wintersemester am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität anbieten wird.

Seit 1998 kommt für jeweils ein Semester ein ausländischer Schriftsteller als „Samuel-Fischer-Gastprofessor für Literatur“ an die Freie Universität. Seitdem geschehen aufregende Dinge in Dahlem: Ein Kamerateam vom japanischen Fernsehen dreht mitten im Seminarraum. Ein russischer Popliterat kommentiert sowjetische Schwarzweißfilme. Nicaraguas früherer Vizepräsident erklärt den lateirikanischen Roman der Gegenwart. Die Studenten erfahren von einem japanischen Nobelpreisträger, wie er 1945 die Stimme des Tenno hörte. Ein Missionsschüler aus Zaire lehrt „Theorien der Differenz“. Eine österreichische Feministin spricht über „Das Dirndl als Text“ - und Alice Schwarzer sitzt dabei, um zuzuhören und mit zu diskutieren.

Die Liste der bisherigen Gäste liest sich abwechslungsreich: Vladimir Sorokin (Russland), Valentin Y. Mudimbe (Kongo), Kenzaburo Oe (Japan), Scott Bradfield (USA), Sergio Ramírez (Nicaragua), Marlene Streeruwitz (Österreich) und Robert Hass (USA). Benannt ist die Professur nach dem Verleger Samuel Fischer, der als 26-jähriger Buchhändlergehilfe 1886 in Berlin einen Verlag gründete, der bald zu dem wichtigsten Verlag für moderne Literatur wurde. Als erste literarische Publikation verlegte Fischer das Schauspiel „Rosmersholm“ von Henrik Ibsen.

In seinem Verlag konnte Fischer sein Konzept von Literatur verwirklichen, gleichzeitig Gesamtausgaben noch lebender Dichter veröffentlichen und junge Talente entdecken: Thomas Mann, Hermann Hesse und Alfred Döblin waren Autoren des renommierten Verlagshauses, das auch Émile Zola, Lev Tolstoi und andere ausländische Schriftsteller verlegte. Mit der einbändigen Buchausgabe der „Buddenbrooks“ 1903 gelang Fischer ein Welterfolg. Während der Nazizeit konnte der Verlag nicht unabhängig arbeiten. Zahlreiche Bücher durften nicht mehr erscheinen, für viele Autoren begann der mühsame Weg ins Exil.

Die Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur wird gemeinsam veranstaltet und organisiert von der Freien Universität und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) mit dem S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main und dem Veranstaltungsforum der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck. Diese Form der Public-Private-Partnership ist bislang in den Geisteswissenschaften keineswegs die Regel. „Unsere Partner vom Holtzbrinck-Konzern, vom Fischer-Verlag und vom Deutschen Akademischen Austauschdienst bringen jeweils ihre spezifische Kompetenz ein“, freut sich Gert Mattenklott vom Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. „Sie helfen uns, ein attraktives Programm einzurichten, das bei unseren Studenten auf großes Interesse stößt.“

Die Kandidaten für die prestigeträchtige Position eines Samuel-Fischer-Gastprofessors werden durch eine Jury ausgewählt. Für die Zeit ihres Berlin-Aufenthaltes sind sie normale Mitglieder des Lehrkörpers. Sie beziehen ein Büro im Institut, führen Sprechstunden durch, betreuen Hausarbeiten und vergeben Scheine. Jeder Gast wählt das Thema und den Stil seiner Lehrveranstaltung selbst. Lyrik oder Romane, theoretische oder kulturgeschichtliche Fragen, kreatives Schreiben oder Politik stehen je nach Vorliebe der Gäste im Mittelpunkt. Die meisten Schriftsteller boten bislang Seminare an, um mit den Studenten ins Gespräch zu kommen. „Im Unterricht mit den Autoren spürte ich, wie lebendig und faszinierend Literatur sein kann“, sagt eine Studentin.

Und anregend sind die Veranstaltungen offenbar nicht nur für die Studierenden, sondern auch für die Schriftsteller. Kenzaburo Oe begann während seiner Zeit an der FU einen neuen Roman mit dem Titel „Wechselbalg“, der 2004 in deutscher Übersetzung erscheinen soll. Er erzählt von den Erfahrungen eines Japaners in Berlin.

Der Lyriker Robert Hass, der im Sommer 2002 an der FU arbeitete, geriet regelrecht ins Schwärmen: „Ich habe mich in Berlin verliebt“, sagte er. „Die Stadt ist so grün und zugleich von so atemberaubender Rohheit. Dass eine so düstere Zeit hinter ihr liegt, war für mich Gegenstand endlosen Nachdenkens - während ich amerikanische Gedichte zerlegte und deutsche Worte suchte an lauen Juniabenden in Dahlem, als die Amseln wie verrückt sangen und die Luft nach Flieder roch und nach Kastanienblüten, nach Regen und nach Gras.“

Öffentliche Veranstaltungen, die in Zusammenarbeit mit wechselnden Partnern wie dem Haus der Kulturen der Welt, dem Ibero-Amerikanischen Institut, den Botschaften der USA oder Kanadas, dem British Council oder den Berliner Festspielen stattfinden, stoßen jedes Mal auf großes Publikumsinteresse. Die Gastprofessoren bereichern nicht nur das Angebot der Universität, sondern auch das kulturelle Leben der Stadt.

Als Zugabe zur Gastprofessur eröffnete der chilenische Schriftsteller Antonio Skármeta („Mit brennender Geduld“, Buch zum Film „Der Postmann“) eine Reihe unter der Rubrik „Samuel-Fischer-Gastvortrag“. Antonio Skármeta kam in den siebziger Jahren als Gast des „Berliner Künstlerprogramms“ des DAAD und blieb als Emigrant an der Spree. Als Botschafter seines Landes kehrt er nun in die deutsche Hauptstadt zurück.

Auch für die nächsten Semester ist vorgesorgt: Im Sommersemester 2003 erwarten die Freie Universität und ihre Partner den Argentinier Alberto Manguel, der einen Kurs über Jorge Luis Borges anbieten wird, dessen Vorleser er einst war, als der große alte Mann der lateinamerikanischen Moderne bereits erblindet war.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU. Informationen zur Veranstaltung unter Telefon: 838-55003 oder per E-Mail: samfisch@zedat.fu-berlin.de . Das Seminar von Yann Martel findet ab dem 16. Oktober jeweils mittwochs von 18 bis 20 Uhr in englischer Sprache im Hüttenweg 9 in 14195 Berlin-Dahlem statt. Die Veranstaltungen sind öffentlich. Mehr im Internet unter: www.complit.fu-berlin.de

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