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Fehlender Resonanzraum: Die tägliche Selbstpräsentation kommt etwa im Homeoffice zu kurz.

© Imago/Westend61

Corona und Gefühle: „Im Homeoffice verkümmert unser Talent zur täglichen Neuerfindung und Selbstpräsentation“

Zwischen Angst und Empathie: Die Historikerin Ute Frevert über kollektive Gefühle in der Coronakrise, den Wunsch nach Kontrolle und eine neue Solidarität.

Frau Frevert, Sie erforschen Gefühle nicht im Sinne persönlicher Empfindungen, sondern als überindividuelles Resultat historisch gewachsener Strukturen. Auf welche Weise formt die Coronakrise unseren kollektiven Gefühlshaushalt?
Gefühle sind selbstverständlich immer persönliche Empfindungen. Aber zugleich sind sie kulturell und gesellschaftlich vermittelt, fügen sich zu Mustern, verdichten sich in sprachlich abrufbaren Repertoires. Das lässt sich in der jetzigen Krise gut beobachten. Wovon reden wir unaufhörlich? Von Angst, von Empathie, von Solidarität, von Unsicherheit, von Vertrauen.

Diese Gefühlsbegriffe greifen emotionale Befindlichkeiten ab, geben ihnen einen Namen und damit auch eine Bedeutung. Außerdem strukturieren sie die Valenz dessen, was fühlbar und sagbar ist. Wer in diesem Setting von Selbstliebe oder Misstrauen spricht, hat sofort ein Legitimationsproblem. Wenn das allerdings viele tun, ändert sich das emotionale Regime.

Lässt sich ein eindeutiges emotionales Muster benennen, mit dem (spät)moderne Gesellschaften auf Grenzsituationen und speziell auf diffuse Bedrohungslagen reagieren?
Die Sehnsucht nach Sicherheit ist wohl am stärksten ausgeprägt. Wir können mit Ungewissheit und Unsicherheit schwer umgehen, weil wir es systemisch darauf anlegen, alles und jedes unter Kontrolle zu bringen – auch uns selber und unsere Gefühle. Gleichzeitig produziert die Moderne mit zunehmender Komplexität auch immer mehr Kontingenz und damit Unsicherheit.

Technologien, die die eine Unsicherheit bannen sollten, entpuppen sich ihrerseits als Produzenten einer anderen Unsicherheit. Aus dieser Schleife gibt es kein Entkommen, und jedes Versprechen auf Sicherheit steht auf tönernen Füßen. Das führt uns die Coronakrise sehr deutlich vor Augen. Es wird „mit Sicherheit“ nicht die letzte sein …

Die Spanische Grippe von 1918/19 war ungleich tödlicher als das Coronavirus, dabei aber keine skandalisierte Krankheit. Ist das Gefühl der Angst aus emotionsgeschichtlicher Perspektive heute verbreiteter als früher?
Angst kennt viele Anlässe und Gesichter. Dass die Spanische Grippe weniger öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr – weniger als Corona, weniger aber auch im Vergleich zur letzten Cholera-Epidemie 1893 –, hatte schlicht damit zu tun, dass europäische Gesellschaften im letzten Kriegs- und ersten Friedensjahr einen Haufen anderer Probleme bewältigen mussten.

Wer mit Millionen Kriegstoten und noch mehr Verletzten und Versehrten „gesegnet“ ist, hat wenig emotionale Kapazitäten für konkurrierende Ängste und Sorgen. Ein ähnliches Phänomen können wir heute in manchen afrikanischen Ländern beobachten. Wenn Europa – wir lassen Weißrussland mal außen vor – der Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung so viel Raum gibt, heißt das auch, dass wir im Moment wenig andere Ängste haben. Und dass das „nackte Leben“ inzwischen eine Valenz hat, die es vor hundert oder zweihundert Jahren noch nicht hatte.

Ute Frevert
Ute Frevert

© Mike Wolff

Lassen sich in vormodernen Gesellschaften ebenfalls einheitliche Reaktionsweisen auf derartige Krisen ausmachen? Oder sind die synchronisierte Erfahrung und die Tendenz zur kollektiven Krisenerzählung Besonderheiten der modernen Mediengesellschaft?
Jede Gesellschaft macht sich ihren Reim auf das, was passiert, und bindet es in narrative Erklärungsmuster ein. „Früher“ galten Seuchen als Strafe Gottes, und Menschen nahmen diese Strafe mehr oder weniger demütig hin. Auch vormoderne, stark religiös geprägte Gesellschaften, wie sie bis ins 19. Jahrhundert hinein bestanden, synchronisieren Gefühle, aber eben auf andere Weise als heute.

Dem mehrheitlichen Anspruch einer wissenschaftlichen und politischen Durchdringung der Pandemie und ihrer Folgen steht in manchen Gesellschaftsteilen ein irrationales oder gar verschwörungsideologisches Krisen-Framing gegenüber. Sind beide Muster auch als Bewältigungsversuche von Ängsten zu begreifen?
Das könnte man so sehen, aber die Unterschiede sind kategorial. Wer wissenschaftlicher Expertise und vernünftig abwägender Politik den Vorzug gibt, ist an Problemlösung interessiert und will Sicherheit herstellen. Wer dagegen in Verschwörungstheorien badet, sucht nach der Ursache der Krise und findet sie in dunklen Machenschaften der üblichen Verdächtigen.

Darauf folgt der Appell, sich allem zu widersetzen, was sie und ihre Helfershelfer in Regierung, Wissenschaft und Medien tun. Hier geht es nicht um die Einhegung eines Virus, sondern um den großen weltanschaulich-politischen Schlagabtausch. Dahinter stehen völlig andere Ängste und Bedrohungsszenarien.

Unserer Lebenswelt ist die Leichtigkeit genommen. Eine für die Gesellschaften des globalen Nordens weitgehend neue Erfahrung. Vieles im alltäglichen Verhalten scheint sich zu wandeln, etwa Begrüßungsrituale. Wie verändert sich die Art und Weise unseres In-der-Welt-Seins, wenn wir nicht mehr auf Autopilot leben können, sondern dauernd in Hab-Acht-Stellung sind?
Wahrscheinlich werden wir diese Stellung sehr bald verlassen und zum Normalmodus zurückkehren, for better or worse. Ich denke nicht, dass die Krise gravierende mentale oder emotionale Umstellungen bewirken wird.

Vielleicht werden wir weniger Küsschen verteilen und Umarmungen austauschen, was auch sein Gutes hat. Wir werden mit unseren emotionalen Gesten haushalten, aber dadurch gewinnen sie an Bedeutung und Unterscheidungsqualität.

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Was macht es mit unserem Menschenbild, wenn wir den oder die andere ständig als mögliche Überträger*in einer potenziell tödlichen Krankheit erachten?
Hier wäre ich vorsichtig und würde vor Pauschalisierungen eher warnen. Für junge oder mittelalte Leute ist diese Gefahr ja offensichtlich nicht sehr groß, und sie benehmen sich schon jetzt entsprechend „locker“ und ungeniert. Ältere und kränkere Menschen hingegen werden sich mehr Sorgen machen und auf Abstand achten. Möglicherweise führt dies zu einem veränderten Generationenverhältnis.

Lernen wir als Gesellschaft womöglich auch eine neue Form der Solidarität, hilft uns die Krise, Empathie zu kultivieren?
Stichwort Generationenverhältnis: einerseits ja, andererseits nein. Wir kaufen für unsere älteren Nachbarn ein, ängstigen uns um unsere alten Eltern und tun alles, um sie zu schützen. Wir beklatschen das medizinische Personal und unterstützen die Ladenbesitzer im Kiez. Wir lernen auch, unseren Blick für andere und deren Probleme zu schärfen – und für die sozialen Ungleichheiten, die die Krise produziert und verschärft.

Andererseits nimmt das selbstbezügliche Lobbying zunehmend groteske Formen an, und vor allem die starken Player haben keine Scham, ihre Geschäftsinteressen mit Ellbogen zu vertreten. Die Oppositionsparteien AfD und FDP gehen, aus durchsichtigen Gründen, eine unheilige Allianz ein, um die Freiheit gegen deren angebliche Verächter in der Regierung zu verteidigen. Hier kämpft, scheint es, jeder gegen jeden. Umso wichtiger ist es in dieser Situation, dass die Politik Kurs hält und verantwortungsvoll abwägt.

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Das öffentliche Leben hat sich zeitweise in die Digitalität verkrochen, unsere sozialen Möglichkeiten sind immer noch eingeschränkt. Wie wichtig ist physische Präsenz – für Gesellschaften und für Individuen?
Was die Krise gezeigt hat, ist, wie wichtig uns Nahbeziehungen sind. Sicher, physische Nähe ist nicht alles, sie lässt sich – etwa durch Online-Kommunikation – überbrücken. Viele Menschen haben das Homeoffice schätzen gelernt, und Arbeitgeber wissen nun, dass ihre Beschäftigten zu Hause oft produktiver sind als im Büro.

Das wird sicher Folgen in der Organisation von Arbeitsabläufen haben. Gleichzeitig aber haben die meisten erfahren, wie sehr sie die persönliche Nähe zu anderen Menschen, zu Kollegen, Nachbarn, Freunden, schätzen und vermissen. Die Unterscheidung von privat und öffentlich hat Vorteile, bis in die Kleidung und den Haarschnitt hinein.

Wenn ich ins Büro gehe, ziehe ich mich anders an, als wenn ich zu Hause bleibe. Wir zeigen öffentlich eine andere Persona als privat, und das ist überaus lustvoll. Unser Talent zur täglichen Neuerfindung und Selbstpräsentation verkümmert ebenso wie unsere sozialen Fähigkeiten. Dafür gibt es keinen vollgültigen digitalen Ersatz.

Ute Frevert ist Historikerin, geschäftsführende Direktorin des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und dort Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“.

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