zum Hauptinhalt
Computerprogramme können die Krebstherapie unterstützen. Diese Grafik fasst zusammen, welche Medikamente Lungenkrebspatient "Rx" bekommt, welche Moleküle (Targets) sie im Körper ansteuern, in welche Stoffwechselwege (Pathways) sie eingreifen und wie sie abgebaut werden (Metabolizing Enzymes). Es zeigt sich (rot hervorgehoben), dass die Krebsmedikamente Erlotinib und Gefitinib das gleiche Molekül (Epidermal growth factor receptor) angreifen (rot), sich mit dem Antibiotikum Clarithromycin nicht vertragen und über das gleiche Enzym (Cytochrom P450 1A2) abgebaut werden. Das kann zu einer Überdosierung und Überlastung des Stoffwechsels führen und daher zu Nebenwirkungen.

© Abbildung: Molecular Health

Computer sollen Behandlung personalisieren: Wegweiser zur besten Krebstherapie

Täglich mehren Forscher das Wissen über Krebs. Doch das führt nur selten zu Therapien, die auf einzelne Patienten zugeschnitten sind. Jetzt soll Spezialsoftware im Datendschungel die passenden Behandlungen finden.

Friedrich von Bohlen und Halbach ist einzigartig. Nicht, weil er ein Erbe des Krupp-Klans ist. Nicht, weil ihn Medien einst als Deutschlands „bekanntesten Biotech-Unternehmer“ betitelten. Nicht, weil er im Biotech-Boom der 1990er Jahre 220 Millionen Euro für seine Bioinformatikfirma Lion Bioscience einsammelte. Und auch nicht, weil er nach dem Platzen der Biotech-Blase und der Pleite seiner Firma zurückkam und in den letzten zehn Jahren mit dem SAP-Gründer und Milliardär Dietmar Hopp über 900 Millionen Euro in ein gutes Dutzend deutsche Biotechfirmen investiert hat. Friedrich Bohlen, wie er genannt werden möchte, ist so einzigartig, wie es eben jeder Mensch ist. Und so individuell Menschen nun mal sind, so individuell ist auch ihr Krebs, wenn sie erkranken.

„Behandelt werden Krebspatienten aber in der Regel mit Therapien von der Stange, nicht mit maßgeschneiderten Behandlungsstrategien, die auf die Besonderheiten ihres Tumors und ihres Stoffwechsels zugeschnitten sind“, sagt Bohlen. In den letzten fünf Jahrzehnten hat es zwar einen drastischen Zuwachs an medizinischem Wissen gegeben. Das sei aber nicht angemessen in wirksamere Therapien umgesetzt worden, so eine Studie im Fachblatt „PNAS“.

Mit "GPS" zur Therapie

Der Biologe und Biotechunternehmer Bohlen will Ärzten ein „Navigationssystem“ durch den stetig wachsenden Wissensdschungel an die Hand geben. Computer sollen helfen, die jeweils passende Therapie für jeden einzelnen Patienten auszuwählen. Um diese „Karte zur Therapie“ (Treatment Map) möglich zu machen und Krankenkassen und Behörden davon zu überzeugen, die Kosten von mehreren tausend Euro zu erstatten, zieht seine Heidelberger Firma Molecular Health nun auch nach Berlin-Mitte.

Die Idee klingt simpel. Man analysiere erstens das Erbgut des Patienten und seines Tumors. Zweitens erstelle man anhand dieser Daten ein Profil der individuellen Genmutationen in den Zellen, die den Krebstyp und dessen Aggressivität bestimmen. Außerdem verraten die Gendaten, wie schnell oder langsam der Patient bestimmte Medikamente abbaut, welche Dosis er verträgt, und mit welchen Nebenwirkungen zu rechnen ist. Drittens durchforstet man die medizinische Literatur nach Informationen, welche Wirkstoffe für dieses Patientenprofil am besten passen und die geringsten Nebenwirkungen verursachen.

Genomanalyse auf Firmenkosten

Spätestens beim dritten Punkt wird klar: Bei täglich tausenden neuer Fachartikel kann kein Arzt mehr behaupten, alle Informationen für eine Therapieentscheidung berücksichtigt zu haben. „Der einzelne Onkologe kann heute einfach nicht mehr alles wissen“, sagt Natalie Lotzmann, leitende Betriebsärztin beim Softwarekonzern SAP. Seit November letzten Jahres wird den weltweit 65 000 Mitarbeitern Bohlens Treatment Map angeboten. Jeder Mitarbeiter, der an Krebs erkrankt, kann damit sein Erbgut und die Genmutationen des Tumors analysieren lassen. Mit diesem Genprofil der Krankheit sucht Molecular Health dann in den Datenbanken nach passenden Therapieoptionen. Die Kosten übernimmt SAP. (Video: Erfahrungen eines SAP-Mitarbeiters)

Je mehr Gene untersucht werden, umso besser

„Natürlich werden wir nie alles wissen, alle Mutationen kennen, alle Interaktionen, die den Verlauf einer Krebserkrankung bestimmen“, sagt Bohlen. Dennoch könne man für jeden Patienten ein individuelles Modell seiner Krankheit erstellen. „Je mehr Pixel ein Bildschirm hat, umso besser ist das Bild.“ Schon wer 50 oder 60 für den jeweiligen Krebstyp relevante Gene auf charakteristische Mutationen untersucht („Hotspot“-Analyse), könne ein Profil der Erkrankung aufstellen. Je mehr Gene getestet werden, ob nun ein „Panel“ von 500 oder alle 23 000 Gene, umso genauer lässt sich bestimmen, an welchen Stellen im Stoffwechsel der Zelle die Krebserkrankung entsteht und wo der Arzt eingreifen kann. „Der zweite Schritt ist dann, mithilfe des medizinischen Wissens in den Literaturdatenbanken die passende Therapie herauszusuchen.“

Molecular Health ist nicht die einzige Firma, die Systeme entwickelt, mit denen das stetig wachsende Wissen über die Molekularbiologie von Krebserkrankungen die ärztliche Praxis verbessern soll. Während an Bohlens Firma seit 2006 SAP-Gründer Hopp beteiligt ist, hat die US-amerikanische Foundation Medicine Finanzspritzen von Microsoft-Gründer Bill Gates und Google Ventures bekommen. Auch Caris Life Sciences oder das deutsche Center for Genomics and Transcriptomics (Cegat) bieten Erbguttests mit anschließender computerunterstützter Diagnose- oder Therapieempfehlung. Die Unterschiede der jeweiligen Angebote sind auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Letztlich hängt der Erfolg davon ab, welche Gene untersucht werden, welche Literaturdatenbanken durchforstet werden und vor allem, wie die Daten aufbereitet werden.

Software taugt auch für andere Krankheiten

Molecular Health bezieht nicht nur die Genomdaten, sondern auch die Diagnose des Arztes und die Krankengeschichte des Patienten ein und sucht in 23 Millionen Fachtexten nach adäquaten Therapievorschlägen, die mit Daten über 37 000 Wirkstoffe bezüglich Neben- oder Wechselwirkungen der Arzneien abgeglichen werden. Über zehn Jahre baute Bohlens Team in Heidelberg diese Datenbanken und Analysesysteme auf. „Wir kopieren die Fachartikel nicht einfach“, sagt Bohlen. Chemische und biologische Informationen könne man ja nicht einfach in eine Datenbank übernehmen. „Wenn man dem Computer beibringen will, welches Medikament mit einem bestimmten Protein interagiert, dann müssen das Experten in die Datenbank einpflegen.“

Bislang hat Molecular Health das System optimiert, um vor allem Onkologen bei der Wahl der Behandlung von Krebs zu unterstützen. Doch prinzipiell taugen die Computeralgorithmen auch für andere Krankheiten wie Diabetes. „Bislang lohnt sich das noch nicht, weil kaum jemand bei 2000 Euro Behandlungskosten für einen Diabetespatienten pro Jahr 3000 Euro für so einen Test zahlen dürfte“, sagt Bohlen. „Aber in fünf Jahren, wenn die Sequenzierungskosten bei vermutlich maximal 1000 Euro liegen, sieht das schon anders aus.“

Software erkennt Neben- und Wechselwirkungen von Arzneien

Während Chemotherapien gegen Krebs bislang nur bei etwa 30 Prozent der Patienten anschlagen, hofft Bohlen, dass die Rate mit Systemen wie Molecular Health auf 75 Prozent steigt. Viel wichtiger könnte aber sein, dass maßgeschneiderte Therapien weniger Nebenwirkungen produzieren dürften. Seit 2012 kooperiert die Firma mit der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA und nutzt deren Datenbank für Nebenwirkungsmeldungen von Medikamenten, um Ärzte vor bestimmten Medikamentenkombinationen zu warnen. „Wenn drei Medikamente von ein und demselben Stoffwechselweg verarbeitet werden müssen, dann kann das einen Organismus überlasten und Nebenwirkungen auslösen“, sagt Bohlen. Ein Arzt könne unmöglich alle Kombinations- und Interaktionsmöglichkeiten im Kopf haben, der Computer schon.

Studien müssen Softwarenutzen erst noch belegen

Inwieweit Bohlens oder andere Navigationssysteme dem Patienten wirklich nutzen, werden Studien zeigen müssen. Das weiß auch Bohlen und hat mit dem MD-Anderson-Krebszentrum in Houston, Texas, und dem Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg solche Programme begonnen, in denen Krebspatienten über Jahre beobachtet werden. Bis Ergebnisse vorliegen und bis dann deutsche Krankenkassen bereit sein werden, jedem Krebspatienten eine Treatment Map zu erstatten, werden noch ein paar Jahre vergehen.

So lange will Bohlen nicht warten. Deshalb hat er sich das „Corporate Oncology Program for Employees“ (Cope) ausgedacht, mit dem Mitarbeitern von Dax-Unternehmen das System angeboten wird. SAP macht den Anfang, weitere folgen, versichert Bohlen. „Die Resonanz war überwältigend“, sagt SAP-Betriebsärztin Lotzmann. Wie viele Patienten das Programm schon genutzt haben, erfahre SAP zwar nicht, weil das Programm über ein „Trust Center Health“ abgewickelt wird, das keinerlei persönliche Daten wie Diagnosen oder Behandlungsergebnisse speichert oder weitergibt. Aber es hätten sich Hunderte von Mitarbeitern über das Programm erkundigt.

Software berät, Arzt entscheidet

Eine Bevormundung der Ärzte in ihrer Therapieentscheidung durch eine Maschine, die auf unübersehbare Daten zurückgreift, befürchtet Lotzmann nicht. „Das System erstellt ja keine Diagnose oder schreibt eine Therapie vor, sondern bereitet dem behandelnden Arzt nur alle zur Verfügung stehenden Daten so auf, dass er eine möglichst informierte Entscheidung fällen kann – nicht mehr aber auch nicht weniger.“ Wie relevant das am Ende für die Patienten ist, ob dadurch tatsächlich die besseren Therapien gewählt werden und die Patienten länger überleben, das werden erst die Studienergebnisse in der Zukunft zeigen.

Zur Startseite