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Rettender Eingriff. Moderne Operationstechnik ermöglicht eine bessere Krebschirurgie im Gehirn, wie hier an der Universitätsklinik in Leipzig.

© Waltraud Grubitzsch/dpa

Chirurgenkongress in Berlin: Unerwünschte Invasion ins Gehirn

Metastasen im Hirn kann man inzwischen oft behandeln. Doch nicht alles, was technisch machbar ist, ist sinnvoll.

Der Tumor in der Brust und die befallenen Lymphknoten waren entfernt, Strahlen- und Chemotherapie überstanden, die Reha brachte körperliche und seelische Kraft zurück. Das normale Leben würde wieder beginnen, hoffte die junge Frau. Nun wollte sie keine Patientin mehr sein. Dieses Gefühl teilte der ältere Herr, dessen Darmkrebs besiegt schien. Zwar hatte sein Tumor schon bei der Diagnose Absiedlungen in der Leber gebildet, doch auch die konnten entfernt werden. Beide, der Mann und die Frau, hatten mehr als ein Jahr keine Beschwerden. Dann kündeten epilepsieartige Anfälle von neuem Unheil: Metastasen im Gehirn.

Bei Lungenkrebs, Brustkrebs und dem bösartigen Schwarzen Hautkrebs kommt das häufiger vor. Bei Darmkrebs-Patienten bilden sich häufiger Absiedlungen in Leber und Lunge – und früher. Bei höchstens drei Prozent ist etwa zwei Jahre nach der Erstdiagnose das Hirn betroffen. Tendenz steigend. „Wir sehen zunehmend Hirnmetastasen, weil die Therapie im übrigen Körper so gut geworden ist“, konstatiert Gabriele Schackert, Neurochirurgin am Uniklinikum Dresden und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Die Patienten leben länger.

Metasen sind "zelluläre Anarchie"

Metastasen waren ein Schwerpunkt des jüngsten Chirurgenkongresses in Berlin. „Sie sind der ultimative Ausdruck zellulärer Anarchie, und sie sind die Hauptursache für den Krebstod“, sagte dort der Neurochirurg Isaiah Fidler aus Houston. Noch verstehe man nicht ganz, warum 99,9 Prozent der im Körper eines Krebskranken zirkulierenden Tumorzellen absterben, eine Minderheit jedoch in anderen Organen Unheil anrichten kann. Nicht völlig aufgeklärt ist auch, warum bestimmte Ersttumoren eine verhängnisvolle Vorliebe für einzelne Organe haben. Fidlers Forschung hat aber dazu beigetragen, dass sich die „Seed-and-Soil“-Theorie bestätigte: Die durch den Körper reisenden Abkömmlinge verschiedener Tumoren („Samen“) gedeihen auf unterschiedlichem „Nährboden“ besonders gut, etwa Zellen des Melanoms in der Lunge und im Gehirn.

Unklar ist, ob es nur Zellen mit besonderen Charakteristika bis in den Kopf schaffen. Absiedlungen von Krebsarten aus anderen Körperregionen bilden dort jedenfalls heute mit 40 Prozent die größte Gruppe der Tumoren. Nicht alle können Chirurgen entfernen. Doch die Operationen und gezielten Bestrahlungen („Radiochirurgie“) kleinerer Absiedlungen sind in den letzten Jahren effektiver geworden. „Es ist nicht alles verloren, wenn die Metastase im Gehirn angekommen ist“, betonte Kongresspräsidentin Schackert. Bei vielen Patienten, die früher nach ein bis zwei Monaten starben und die nur auf Linderung hoffen konnten, können heute unter Beobachtung ihrer Gehirnfunktionen einzelne Metastasen im Ganzen und mit einem Sicherheitsabstand entfernt werden. Oft könne sogar auf eine Bestrahlung des gesamten Kopfes verzichtet werden.

Vor dem Eingriff beraten Ärzte verschiedener Disziplinen

In fünf bis zehn Prozent der Fälle findet sich im Gehirn allerdings eine Metastase, ohne dass vorher ein Tumor diagnostiziert worden wäre. Dann ist es schon deshalb wichtig, die Metastase zu entfernen, weil sie vom Pathologen untersucht werden muss. Er kann dem unbekannten Primärtumor anhand seiner biologischen Merkmale auf die Schliche zu kommen. Voraussetzung ist aber, dass es sich um vereinzelte Metastasen handelt, und dass sie chirurgisch gut anzusteuern sind, ohne dass man schwere neurologische Defizite riskieren würde. Absiedlungen in tieferen Hirnregionen werden deshalb meist nicht operiert. „Hier würden wir mehr Schaden anrichten, als wir helfen können“, sagte Schackert.

Wenn es sich nicht um einen Notfall handelt, in dem eine große Absiedlung im Gehirn so raumgreifend wird, dass Lebensgefahr besteht, spielen das Gesamtbefinden des Patienten und sein Alter bei der Entscheidung eine wesentliche Rolle. „Jede Verschlechterung des Allgemeinzustands verschlechtert auch die Prognose“, sagte Schackert. Es sei daher unumgänglich, dass Ärzte verschiedener Disziplinen über den Fall beraten.

Hirnmetastansen galten lange Zeit als Zeichen, dass man "nichts mehr machen kann"

Lange Zeit herrschte die Auffassung, dass man „nichts mehr machen kann“, wenn der Krebs im Gehirn angekommen ist. Mit der technischen Sicherheit, die die Neurochirurgen inzwischen gewonnen haben, stellt sich nun umgekehrt die Frage: Sollte man alles machen, was man machen kann? „Die Erwartungshaltung der Patienten ist enorm“, sagte Schackert. „Wir müssen allerdings gute Gründe haben, und wir müssen im Einzelfall auch ablehnen.“ So erscheine eine Operation prinzipiell nicht als sinnvoll, wenn mehr als drei Hirnmetastasen sichtbar sind. Möglicherweise kommt dann eine gezielte Radiochirurgie infrage oder doch die Bestrahlung des gesamten Gehirns.

Falls operiert wird, muss rechtzeitig geplant werden, wie es danach weitergehen soll. Denn Krebs ist bei vielen zu einer chronischen Krankheit geworden, die sich später in anderen Organen melden kann. „Deshalb sollten Patienten, falls ihr Zustand das zulässt und noch Möglichkeiten bestehen, unbedingt an ihrem Tumorleiden außerhalb des Gehirns weiterbehandelt werden", sagte Schackert.

Mehr Zeit für Gespräche und eine bessere Vergütung, fordern Mediziner

Bei vier von fünf Patienten, die mit Metastasen in der Leber in die Klinik kommen, sei heute ein operativer Eingriff technisch möglich, berichtete der Bauchchirurg Hauke Lang von der Universitätsklinik Mainz. Fast die Hälfte überlebt die nächsten fünf Jahre. Nur ein Viertel hat allerdings die Chance auf eine echte Heilung. Lang wünscht sich bessere Kriterien, um vorab zu entscheiden, wer von einem Eingriff profitiert – etwa molekularbiologische Charakteristika.

Ob eine erneute Krebsbehandlung die Lebensqualität verbessert, muss oft über viele Jahre hinweg immer wieder abgewogen werden. In vielen Sitzungen war deshalb zu hören: Für Gespräche, in denen Ärzte, Patienten und Angehörige gemeinsam nach dem besten Weg suchen, muss mehr Zeit und eine bessere Vergütung eingeplant werden. Dazu passt das Motto des diesjährigen Chirurgenkongresses: „Chirurgie im Spannungsfeld zwischen Technik, Ökonomie und Ethik“.

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