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Ein Demonstrant hält ein Schild mit der Aufschrift Stoppt den Impfrassismus hoch.

© imago images/Eibner

Buch über die Bewegung der Querdenker: Inspiriert von Narren, Identitären, Sektierern

Wut gegen die als unfähig oder diktatorisch empfundene Obrigkeit: Eine Analyse gesellschaftlicher Strömungen, die hinter der Bewegung der Querdenker stehen.

Der Mord in Idar-Oberstein ist das Sinnbild gewaltsamer Verweigerung von politischem und sozialem Konsens. Am 18. September 2021 reagierte ein 49-jähriger Mann beim Bierkauf in einer Tankstelle mit Unmut auf die Aufforderung, die wegen der Pandemie vorgeschriebene Maske zu tragen.

Anderthalb Stunden später erschien er, dieses Mal mit Maske, wieder in der Tankstelle, zog die Bedeckung von Mund und Nase demonstrativ ab und tötete mit einem Revolverschuss den Kassierer, einen 20-jährigen Studenten. Er habe ein Zeichen setzen müssen, erklärte der Täter nach der Festnahme der Polizei.

Der Mord ist Symptom einer vor Gewalt nicht zurückschreckenden Verwahrlosung der Szene, die sich unter dem Etikett „Querdenken“ weiter radikalisiert. Verschwörungs-Affine, Corona-Leugner und weitere Verweigerer jubeln im Dickicht der sozialen Medien über die Tat, zeigen Verständnis für die mörderische angebliche Notwehr, den vermeintlichen Befreiungsschlag gegen die eingebildete Tyrannei einer verachteten Obrigkeit, gegen die man sich auflehnen müsse.

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Aggressive Demokratieverachtung bis hin zu Gewaltfantasien skandierten mit „Merkel-muss-weg“ bereits die Pegida-Demonstranten seit Jahr und Tag, ehe sie ihren Frust über die Schutzvorkehrungen der Corona-Pandemie auf die Straßen trugen.

Impulse von Populisten und Verschwörungsideologen

„Querdenken“ ist zum Markenzeichen einer Auflehnung geworden, die als „Bewegung“ organisiert ist, die Impulse von Populisten und Verschwörungsideologen, von Identitären und Reichsbürgern, Rechtsextremen, kreidefressenden AfD- Politikern im Schafspelz, Sektierern und Narren erhält. Provokation und Usurpation sind die Methoden, Ziel ist die Destruktion von Normen, die dem friedlichen Miteinander und vernünftigem Interessenausgleich in Staat und Gesellschaft dienen.

[Der Artikel von Wolfgang Benz beruht auf seiner Einleitung zu diesem von ihm herausgegebenen und soeben im Berliner Metropol-Verlag erschienenen Buch: Querdenken. Protestbewegung zwischen Demokratieverachtung, Hass und Aufruhr. Am Mittwoch, 24. November 2021, um 18.30 Uhr findet eine Buchvorstellung in der Berliner Landeszentrale für politische Bildung statt (Anmeldung über diesen Link; Livestream im YouTube-Kanal der Landeszentrale).]

Die destruktive Mechanik ihres Agierens mag vielen Beteiligten unbewusst sein, weil sie vor allem Emotionen in gleich gesinnter Gemeinschaft abreagieren wie Ärger, Enttäuschung, Zukurzgekommensein, Inferioritätskomplexe, Sozialneid, beruflichen oder existenziellen Misserfolg. Vielleicht suchen sie Trost in gemeinschaftlicher Auflehnung gegen gesellschaftliche und staatliche Ordnung.

Usurpation, also unbefugte Übernahme, beginnt bei der Begrifflichkeit. Der Terminus „Querdenken“ bezeichnet eine philosophische Methode, mit der seriöse Autoren zu Beginn der 1970er-Jahre Kreativitätsreserven mobilisieren wollten. Die Anstifter der Demonstrationen gegen Corona-Schutzmaßnahmen haben im Sommer 2020 und zuerst in Stuttgart den Begriff „Querdenken“ zur Losung randalierender Aufständischer gemacht.

Ein Porträtbild von Wolfgang Benz.
Der Berliner Historiker Wolfgang Benz ist Herausgeber des jetzt erschienen Buchs über die Querdenker-Bewegung.

© Jörg Carstensen/picture alliance/dpa

Das Bewusstsein, die einzig richtige Weltsicht zu praktizieren, verbindet die „Querdenker“, die von Aktivismus ohne konkrete Ziele angetrieben sind. Sie fühlen sich, wie von der Dresdner Pegida-Truppe längst vorgelebt, zum Widerstand aufgerufen. Es ist ein „Widerstand“ ohne Richtung, aber von elementarem Anspruch. Auch das ist eine Usurpation, die vorgenommen wurde, als sich die Aufsässigen in Dresden mit historischen Anleihen bei der Opposition gegen den Nationalsozialismus ausstaffierten.

Sachsen hat, trotz der Tatsache, dass sich dort Rechtsextreme, Aufsässige, Demokratieverweigerer seit der Pegida-Gründung überaus wohl fühlen und besonders auffällig sind, nicht das Alleinstellungsmerkmal. Im September 2021 wurde in Deutelhausen, einem Ortsteil der Gemeinde Schechen bei Rosenheim in Bayern, eine Schule geschlossen, in der Nachwuchs der Szene unterrichtet wurde, die von Querdenkern und „Reichsbürgern“ bestimmt ist.

Ein besonderer Nährboden der Aufsässingkeit?

Die illegale Bildungseinrichtung auf einem Bauernhof besuchten 50 Schüler, unterrichtet wurden sie von Kräuter- und Musikpädagogen, Schamanen, Esoterikern unter Leitung einer echten Lehrerin, die im staatlichen Schuldienst krankgemeldet war. Die Einrichtung sei nicht illegal, unterstehe vielmehr als Stiftung russischem Recht, behaupteten die Betreiber, als die Polizei erschien, um den seltsamen Schulbetrieb zu unterbinden.

[Lesen Sie auch das Interview von Amory Burchard mit Wolfgang Benz zu seinem 80. Geburtstag (T+): Erforschen, warum Menschen ausgegrenzt werden]

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), hat mit Äußerungen über die Demokratieskepsis der ostdeutschen Bevölkerung im Frühjahr 2021 viel Kritik geerntet. Man habe es mit „verfestigtem Protestwählerpotenzial und mit teilweise ebenso verfestigten nichtdemokratischen Strukturen zu tun, und diese Menschen seien nicht durch gute Arbeit von Regierungen zurückzugewinnen, weil sie in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind“.

Das Urteil wurde zu Recht angezweifelt. Trotzdem ist die Frage berechtigt, ob die neuen Bundesländer einen besonderen Nährboden für die Aufsässigkeit bieten, die sich in der Querdenken-Bewegung, im Protest gegen demokratische Ordnungsvorstellungen, im Aufstand gegen die Vernunft artikuliert. Die Erfolge der AfD und noch weiter rechts stehender Gruppierungen in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen deuten darauf hin.

Eine Demonstrantin trägt ein Schild mit der Aufschrift Wenn das Volk es will, stehen alle Räder still.
Gedenkmarsch von Querdenkenden in München am Sonntag, 21. November 2021.

© imago images/aal.photo

Schnellfertige Urteile, die sich an Symptomen festmachen, lösen nicht die Frage nach der verbreiteten, in Wahlergebnissen dokumentierten und auf der Straße agierten Zurückhaltung gegenüber demokratischen Normen. Zu forschen ist vielmehr nach den Fehlern, die bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten gemacht wurden. Zu fragen ist, ob die Geschwindigkeit der Zusammenführung zweier dichotomer Gesellschaftssysteme, staatlicher Ordnung und politischer Kultur zu hoch war und welche Folgen das immer noch hat.

Errungenschaften, die der Arroganz des Westens zum Opfer fielen

Zu klären ist aber vor allem, welche Demütigungen Menschen nur deshalb zugefügt wurden, weil sie Bürger der DDR gewesen waren. Welche Errungenschaften fielen der Arroganz des stärkeren Westens zum Opfer? Was hätten die Überbringer der demokratischen Heilsbotschaft der Freiheit, der offenen Gesellschaft und des Wohlstands von denen lernen können, die als Empfänger zum Wohlverhalten, zur Dankbarkeit, zum Erlernen und Einüben neuer politischer Verhaltensweisen verpflichtet wurden?

Auffällig ist immerhin die Wendung nach rechts, die Protagonisten der Bürgerrechtsbewegung der DDR genommen haben. Sie zeigt sich bei den Demokratieskeptikern und Staatsverweigerern, die sich bei Pegida-Demonstrationen, in Bürgerinitiativen, Kleinstparteien und lokalen Empörungsgemeinschaften treffen, und lässt sich an den Stimmen für die rechtsradikale Partei „Alternative für Deutschland“ im Osten ablesen.

Das einigende Band der Querdenker bildet die Wut gegen die wahlweise als unfähig oder diktatorisch empfundene „Obrigkeit“. Und damit gegen Eliten, gegen jene, die intellektuell, politisch, sozial oder kulturell auf das Zusammenleben von Menschen Einfluss haben, Regelungen diskutieren, Normen in Kraft setzen und auf deren Einhaltung im Konsens der Mehrheit bestehen.

Aus Kritik am Handeln der Regierenden entstand bei vielen Skepsis gegen das Ordnungsmodell Demokratie. Manchen erscheint das System als zu wenig effektiv – was sich einst im Ruf nach dem „starken Mann“ äußerte, der mit Hitler gefunden wurde, und sich heute in der Sympathie für autoritäre Regime in Russland, der Türkei oder Brasilien zeigt. So gehört zum „Querdenken“ die Forderung nach Mitwirkung am unmittelbaren Regierungshandeln.

Das Postulat „Basisdemokratie“ ist so populär wie illusionär. Wer die Entscheidungen der Regierung Merkel zum Atomausstieg oder das Offenhalten der Grenzen auch für Flüchtlinge verdammt, weil die Kanzlerin nicht zuvor das Volk befragt habe, hat das Wesen der parlamentarischen Demokratie nicht begriffen. Ebenso wenig wie jemand, der sich über Unfähigkeit oder Fehlverhalten einzelner Abgeordneter oder Minister aufregt, deshalb die repräsentative Demokratie ablehnt und für die Selbstermächtigung des/der Einzelnen plädiert.

Wer den Konsens zur repräsentativen Demokratie, in der Delegierte den Mehrheitswillen im Parlament zum Ausdruck bringen, als Diktatur empfindet, darf nicht auf Verständnis hoffen, wenn er als Demagoge abgelehnt wird. Als Prinzip gilt, dass Kompromisse durch Diskussion erzielt, dass Positionen und Werte wie Toleranz, Liberalität, Vernunft mit klarer Kante verteidigt werden müssen.

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