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Ein Blick in die fast fertiggestellte Ausstellung im Humboldt-Labor.

© HU Berlin/Philipp Plum

Besuch im fertiggestellten Humboldt Labor: Abstrakte Forschungsansätze zum Leben erweckt

Interaktiv, respektvoll und mit künstlerischen Kommentaren: Wie das Humboldt Labor im rekonstruierten Berliner Stadtschloss funktionieren kann.

Über eine 25 Meter lange und sechs Meter hohe Wand rollt die Katastrophe des 11. Septembers 2001. Die Twin Towers, die Flugzeuge, die hineinfliegen, die Explosionen, das Einstürzen der Türme. Verschiedene Perspektiven auf 24 Leinwandrollos, die ab- und wieder aufgerollt werden.

Dann eine kurze Zeit der Stille. Jetzt erscheint der Berliner Politikwissenschaftler Michael Zürn und erklärt: „Das Jahr 2001 kann als Wendepunkt angesehen werden, von dem Moment an sind die Anfechtungen des liberalen Skripts stärker geworden.“

Eine Minute spricht der Co-Direktor des Exzellenzclusters „Herausforderungen für die liberale Demokratie“ (Contestations of the Liberal Script) im Video, alle Sätze werden zum Mitlesen verschriftlicht. Und doch ist es kaum möglich, in dieser kurzen Zeit zu erfassen, um was es geht.

Auch wenn die brillante Optik der Bilder und der klare Ton, der lauter wird, je näher man an die Wand herantritt, technisch perfekt gemacht sind. Die eigens für das Humboldt Labor erfundene interaktive Wand ist für Chefkurator Gorch Pieken das Herzstück dieser universitären Ausstellung im Humboldt Forum.

Bis auf wenige Handgriffe ist die Ausstellung fertig

Doch das Integrative Forschungsinstitut Thesys zu Transformationen von Mensch-Umwelt-Systemen und der an der Freien Universität angesiedelte Exzellenzcluster Liberal Script, die als herausgehobene Beispiele auf der Wand dominieren, bleiben eine schwere Materie für die Wissenschaftsschau, gibt Pieken zu.

Frauen und Männer stehen in einem Gebäude vor einem Fischschwarm, der auf einen Vorhang projiziert wird.
Eine Simulation des interaktiven Fischschwarms mit Besucher:innen.

© Simulation: SchnelleBunteBilder

Um so gespannter ist er auf die ersten Besucher:innen. Doch wann sie, abgesehen von jetzt beginnenden Presseführungen und Probeläufen, das rekonstruierte Stadtschloss in der Mitte Berlins und damit auch das Humboldt Labor betreten, ist pandemiebedingt derzeit nicht absehbar.

Noch wird auf der Homepage eine Eröffnung „im Frühjahr“ in Aussicht gestellt. Fest steht nur eines: Bis auf wenige letzte Handgriffe ist die Ausstellung fertig. Aber wird sie dann auch „funktionieren“ für die Menschen, die ethnologische Sammlungen, Berlin-Geschichte und eben auch einen Einblick in die Berliner Universitätsgeschichte erwarten?

Der Fischschwarm "lebt" auf einer Art Duschvorhang

Sicher ist sich der Chefkurator, dass das Entrée in die Ausstellung gelingt – die Begegnung mit einem interaktiven Fischschwarm, der im Foyer des Labors als Pixelwolke auf einer Art monumentalem Duschvorhang „lebt“ und auf die Bewegung des Publikums mit Gegenbewegungen reagiert. „Die Besucher erfahren intuitiv, dass ihr Tun und Unterlassen Auswirkungen auf ihre Umwelt hat“, sagt Pieken.

Diese Simulation stehe außerdem dafür, dass Wissenschaft die Wirklichkeit mit Hilfe von Modellen erklärt.

[Lesen Sie auch einen Bericht von Rolf Brockschmidt über das Konzept der Ausstellung (T+): Ein erster Blick ins Humboldt Labor]

Sich dann in nur ein Statement von einer Wissenschaftlerin oder einem Wissenschaftler zu vertiefen, funktioniere schon für sich, denn jedes bilde eine Sinneinheit, versichert der Ausstellungsmacher. Die Wand sei auch ein „pädagogischer Köder, sich auf die Begegnung mit den Wissenschaftler:innen einzulassen“.

Und vor der interaktiven und multimedialen Bild-Text-Projektion, die die ganze Länge des Hauptsaals einnimmt, finden sich in von der Decke hängenden Vitrinen jede Menge weiterer „Köder“, die wiederum mit den auf den Rollos präsentierten Themen interagieren.

Die meisten Objekte stammen aus den historischen Sammlungen der ersten Berliner Universität, die in der DDR-Zeit nach ihrem Gründer Wilhelm von Humboldt und seinem Bruder Alexander, dem großen Naturforscher, benannt wurde.

Blick in die Ausstellung zum Lautarchiv der Humboldt-Universität.
Blick in die Ausstellung zum Lautarchiv der Humboldt-Universität.

© HU Berlin/Philipp Plum

Spricht auf einem Rollo ein junger Klimaforscher über fatale Umweltfolgen von Staudammprojekten etwa in Brasilien, lassen sich in der dritten Vitrinenreihe die Karten eines heute betroffenen Flusslaufs entdecken, der im 19. Jahrhundert von Emilie Snethlage erforscht wurde.

Blickfang in der Vitrine sind Glasperlencolliers, die Snethlage bei ihren Reisen von Ureinwohnern erwarb. Auch sie überdauerten – und halfen aus ihrer Heimat vertriebenen Nachfahren der damaligen Schmuckkünstlerinnen ihre regionale Herkunft zu beweisen, erzählt Pieken.

Klassische Gelehrtenporträts ironisch kommentiert

Das ist eines von unzähligen Beispielen aus der Ausstellung, die Forschungsgeschichte und ihre Vernetzung bis in die heutige Zeit anschaulich erzählen. Und das auch quer zur bekannten, von männlichen Protagonisten dominierten Wissenschaftsgeschichte, indem etwa klassische Gelehrtenporträts von einer jungen Künstlerin mit einem ironischen Bild-Kommentar versehen werden: Das Raffael-Fresko der „Schule von Athen“ wird mit gut zwei Dutzend berühmten Frauen nachgestellt – von Hannah Arendt bis Greta Thunberg.

Solche künstlerischen Brücken, auch über Leerstellen hinweg, haben Pieken und sein Team mehrfach in die Ausstellung eingebaut. Als widerständige Identifikationsfigur steht der Tank Man des spanischen Künstlers Fernando Sánchez Castillo in einer Vitrine: Das Plastilin-Abbild eines nie identifizierten jungen Mannes, der sich 1989 auf dem Tiananmen Platz den Panzern entgegenstellte.

5000 Miniaturen der Figur warten auf die Besucher:innen. Wer einen schriftlichen Kommentar zur Demokratie – und für die Forschenden zu den bedrohten „Liberal Scripts“ – hinterlässt, darf einen Tank Man mit nach Hause nehmen.

Sagt seinen Namen - als Geste des Respekts

Eine andere Intervention sind „afrikanische“ Masken, die der Künstler Romuald Hazoumè aus Kanistern schnitzte, in denen Benzin von Nigeria nach Benin geschmuggelt wird. Sie sollen dem Publikum sein Verlangen nach Exotik entgegenhalten, persiflieren die Begeisterung des Westens für „afrikanische Kunst“.

Zum problematischen Erbe der Humboldt-Uni gehören Teile seines Lautarchivs, die nun entgegen erster Bedenken doch ausgestellt werden. So wurden im Lager Wünsdorf Sprachaufnahmen mit Gefangenen aus dem Ersten Weltkrieg gemacht, denen ihr Beitrag zur Sprachforschung der Berliner Universität in einer Zwangslage abverlangt wurde.

Wer aber heute im Humboldt Labor die Worte eines sudanesischen Gefangenen hören möchte, muss zuvor seine Biografie lesen und seinen Namen Mohammed Ben Sala in ein Mikrofon sprechen – als Geste des Respekts, wie Gorch Pieken sagt.

Respekt gebührt auch ihm und seinem Team, die abstrakte Idee des Humboldt Labors mit Leben gefüllt zu haben. Jetzt müssen sich der Fisch-Vorhang und die vielen Rollos nur noch für das echte Publikum öffnen.

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