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Eine Gruppe Kinder steht mit Erzieherinnen in einem Waldstück.

© privat/ Schwabe Verlag

Berliner Reformpädagogin Annemarie Wolff-Richter: „Das Leben haben sie zu gewinnen“

Annemarie Wolff-Richter führte ein vorbildliches Kinderheim in Berlin. Ihr Leben verlor sie in einem kroatischen KZ. Jetzt erschien ihre Biografie.

Der Mensch sei frei, „sein Leben und seine Beziehungen aktiv zu gestalten, also auch umzugestalten“. Nach diesem Leitsatz von Alfred Adler, dem Wiener Arzt und Psychologen, hat Annemarie Wolff-Richter ihr Leben und ihre Arbeit für und mit Kindern gestaltet – auch unter den allerwidrigsten Umständen.

Geboren 1900 in Breslau, wurde Wolff-Richter in der Weimarer Republik als Heilpädagogin und Leiterin des Berliner individualpsychologischen Kinderheims bekannt. Im April 1945 wurde sie im kroatischen Konzentrationslager Jasenovac ermordet.

Ihre Tochter Ursula, mit 15 Jahren allein auf sich gestellt, war erst Jahrzehnte später in der Lage, das Leben ihrer Mutter zu erfassen. Doch sie starb, ehe die Biografie unter Mitarbeit der Politikwissenschaftlerin Marina Sindram fertiggestellt war. Das ist nun mithilfe ihres Sohnes – des Enkels von Annemarie Wolff-Richter – Ludwig T. Heuss geschehen.

Und so liegt unter dem Titel „Mit dem Kinderheim auf der Flucht. Heilpädagogin im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ die Biografie einer außergewöhnlichen Frau vor, in deren Lebensweg zugleich die deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis zum NS-Regime tief eingeprägt ist.

[Der Autor moderierte im Rahmen der Berlin Science Week eine Online-Lesung des soeben erschienenen Buchs und ein Gespräch mit Ludwig Theodor Heuss: Mit dem Kinderheim auf der Flucht. Heilpädagogin im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Schwabe Verlag, Basel 2020. 413 Seiten, 34 €]

Annemarie Wolff-Richter strebte nicht in die Politik, sondern wurde in sie hineingezogen. Aus der Enge des Breslauer Elternhauses brach sie 1919 aus, nach Berlin. Nachdem sich ein Medizinstudium als unmöglich erwiesen hatte, wollte sie ihre nach und nach vertieften Kenntnisse der Psychologie in der Arbeit mit Kindern anwenden und gründete mit nur 26 Jahren ein individualpsychologisch orientiertes Kinderheim.

Ihr Plan reifte zu dem glücklichen Moment, da die sozialpolitischen Ziele der Weimarer Republik Mitte der zwanziger Jahre tatsächlich realisierbar schienen. Ein Haus in Hermsdorf wurde gefunden, ein „Erziehungsheim“ eingerichtet, Kinder wurden aufgenommen, die als „schwererziehbar“ galten.

Buchcover mit einem Porträt Annemarie Wolff-Richters.
Cover der Biografie Annemarie Wolff-Richters.

© Schwabe Verlag

Die guten Jahre gingen schnell vorüber, Heirat und Geburt der Tochter Ursula lenkten von der Arbeit nicht ab. Die öffentlichen Zuschüsse fielen weg, das Heim musste umziehen, erst nach Frohnau, dann nach Wannsee, schon zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die Nazis. Die hatten ein Auge auf ein Heim geworfen, in dem Kinder von Antifaschisten und von Juden gleichermaßen betreut wurden.

„Das Schicksal Annemaries und der mit ihr verbundenen Personen“, schreibt ihr Enkel Ludwig T., Heuss, väterlicherseits Enkel von Theodor Heuss, „ist beispielhaft für politische Verfolgung und Radikalisierung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Die Schikanen nehmen zu, missgünstige Nachbarn sind mit Denunziationen zur Hand, SA-Männer dringen ins Heim ein: „Die Judenbude wird dichtgemacht!“

Annemarie, nach der Scheidung inzwischen mit dem als Juden besonders bedrohten Erwin Süssmann liiert, hält das Heim aufrecht. 1936 wird sie von der Gestapo verhaftet und wochenlang eingesperrt. Auslöser war eine Anzeige „wegen ruhestörenden Lärms“, doch die Anklage der Gestapo lautet auf „staatsfeindliche Tätigkeit durch Erziehung von Kindern in jüdisch-marxistischem Sinne“.

Ihr gelingt die Flucht nach Zagreb - mit einigen Kindern

Sie entkommt der Haft, die Flucht nach Prag folgt unmittelbar. Hilfe leistet Ernst Ludwig „Lutz“ Heuss, der Sohn des von den Nazis ums Mandat gebrachten Reichstagsabgeordneten und späteren ersten Bundespräsidenten. Lutz wird später der Ehemann der Tochter Ursula.

Es gelingt die Übersiedlung nach Jugoslawien, wo Erwin Süssmann nördlich von Dubrovnik einen Platz gefunden hatte. Erstaunlich, dass einige der betreuten Kinder mitkommen konnten. Später folgte der Wechsel nach Zagreb, einmal mehr unterstützt von Emigranten am Ort. Ihren Idealismus hatte Annemarie Wolff-Richter behalten. Über ihre Arbeit mit den Kindern schrieb sie kategorisch: „Das Leben haben sie zu gewinnen und dafür bin ich da.“

Porträt einer Mutter mit ihrem Baby.
Annemarie Wolff-Richter und ihre Tochter Ursula.

© Privat/Schwabe Verlag

Doch die Verhältnisse in Europa wandeln sich rapide unter dem Expansionsstreben des Hitlerreichs. An den Veränderungen im Alltag, die das Buch anhand einer bemerkenswert dichten Quellenlage schildert, lassen sich die Drangsalierungen von Juden und Regimegegnern ablesen, das Zerbrechen der Hoffnung auf Auswanderung, ja auf blankes Überleben.

1941 besetzte die Wehrmacht Jugoslawien, und in ihrem Windschatten schuf die faschistische Bewegung der Ustascha ein scheinsouveränes Kroatien von deutschen Gnaden, mit Rassengesetzen nach Nürnberger Vorbild. Erwin Süssmann fällt den Repressionen bereits 1941 zum Opfer.

Im Sommer 1944 wird sie nach Jasenovac deportiert

In Jasenovac entstand ein weitläufiges Lagersystem als Arbeits- und Vernichtungslager: „Hier legten die Mörder selbst Hand an, brachten mithilfe von Schusswaffen, mehr noch mit Messern, Hacken, Äxten und Holzhämmern die Häftlinge zu hunderten an einem Tag um.“

Während immer weitere Freunde und Bekannte aus Zagreb flüchteten, hielt Annemarie Wolff-Richter in Zagreb aus. Doch im Sommer 1944 wurde sie verhaftet: Die Gestapo hatte sie, die längst unter anderem Namen lebte, ausfindig gemacht und brachte erneut vor, sie habe ein Kinderheim in marxistischem Sinne geführt und jüdische Jugendliche aufgenommen.

Versuche deutscher Bekannter, die nichtjüdische Annemarie aus der Haft zu befreien, blieben erfolglos. Bei Kriegsende erfuhr die 15-jährige Tochter Ursula, dass und wie furchtbar die Mutter im Lager Jasenovac im Frühjahr 1945 zu Tode gekommen war, zusammen mit zweitausend zumeist weiblichen Mithäftlingen.

Ursula blieb im nunmehr sozialistischen Jugoslawien und arbeitete am Aufbau des Landes mit. Jahre später kam sie in die noch junge Bundesrepublik – und blieb. Das ist die Geschichte seiner Mutter, die Ludwig T. Heuss als Schlusskapitel des Buches berichtet.

Die Verbrechen des 20. Jahrhunderts blieben immer präsent. Zugleich aber ist das Buch die Würdigung einer außergewöhnlichen Frau von nie versiegender Tatkraft. Keine Widerständlerin, sondern eine Widerständige, der es um die von ihr betreuten Kinder ging. Ihnen suchte sie ein Leben zu gewinnen, ganz so wie ihr eigenes.

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