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Den Blutdruck zu Hause messen und drahtlos per Smartphone an einen Arzt übertragen: Solche Szenarien könnten in Zukunft Normalität werden.

© Hendrik Schmidt/dpa

Berliner Hauptstadtkongress 2018: Das Gesundheitssystem auf dem Smartphone

Die Zukunft der Medizin wird digital – aber wie soll das aussehen? Beim Hauptstadtkongress im Citycube wurden neue Entwicklungen vorgestellt - und verpasste Chancen beklagt.

Der Patient hat einen erhöhten Cholesterinspiegel. Ihm wurde ein künstliches Kniegelenk implantiert und er war häufig bei der Physiotherapie. Er heißt Erwin Böttinger und ist Direktor des im vergangenen Jahr gegründeten Digital Health Center des Hasso-Plattner-Instituts der Universität Potsdam. Er hat kein Problem damit, die Eintragungen aus seiner eigenen elektronischen Patientenakte einem größeren Publikum per Bildschirm zugänglich zu machen. Sie kommen vom Mount Sinai Krankenhaus in New York. Der Professor hat sie als App auf seinem Smartphone. 

In Potsdam wird eine Health Cloud entwickelt

Böttinger gab den kurzen Einblick in seine Gesundheitsdaten bei der Eröffnungsveranstaltung des diesjährigen Hauptstadtkongresses, zu dem sich vom 6. bis 8. Juni 8000 Teilnehmer aus allen Bereichen des Gesundheitswesens in Berlin versammelten. Motto des Kongresses: "Digitalisierung und vernetzte Gesundheit".

In einer Health Cloud, die derzeit am Hasso-Plattner-Institut entwickelt wird, ist geplant, noch mehr Informationen zu sammeln als in Böttingers App. Sämtliche diagnostische Daten sollen damit allen behandelnden Ärzten und dem Patienten selbst zur Verfügung stehen. Außerdem sollen sie für Forschungszwecke genutzt werden, wie Plattner selbst zur Eröffnung per Videobotschaft wissen ließ.

Die App Ada kennt 7000 seltene Krankheiten 

Noch einen Schritt weiter geht der Neurowissenschaftler und Physiologe Martin Hirsch. In Berlin entwickelte er zusammen mit Grundlagenforschern, Ingenieuren und Medizinern in einem Gesundheits-Start-up seine mehrfach preisgekrönte App namens Ada. Sie kann mit ihrem Nutzer in einen Dialog treten. "Ada orientiert sich am menschlichen Denken und fällt aufgrund sehr besonderer Algorithmen synthetische Urteile", berichtete Hirsch. Ärzte können mit ihrer Hilfe aufgrund der Befunde ihrer Patienten Diagnosen stellen, sie kennt inzwischen eintausend Krankheiten mit mehreren Milliarden Kombinationen typischer Symptome und weiß auch in kniffligen Fällen Rat.

Weitere eher selten auftretende leiden müssen in den nächsten Jahren noch in das System eingepflegt werden. "Welcher Arzt kann sich 7000 seltene Erkrankungen merken?", fragte Hirsch die Kongressteilnehmer eher rhetorisch.

Ein weiteres Einsatzgebiet sieht der Physiologe in der personalisierten Prävention. Dafür sei es allerdings nützlich, neben der möglichen familiären Belastung auch das eigene genetische Profil zu kennen, etwa ein erhöhtes Risiko für Gicht. Auf längere Sicht soll Ada nach dem Willen ihres Schöpfers mit ihrer künstlichen Intelligenz aber auch Gesundheitshelfer unterstützen, die in ärmeren Ländern die Basisversorgung sicherstellen. Im Augenblick sei Deutschland bei derartigen Technologien zur Unterstützung der Diagnostik führend. "Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht einen Anruf aus China bekommen, bei dem man uns große Summen dafür bietet, unsere Technologie zu verkaufen."

"Die elektronische Gesundheitskarte ist eine verpasste Chance"

Solcher Aufbruchstimmung stehen die Querelen um die elektronische Gesundheitskarte gegenüber. Zwölf Jahre und eine Milliarde Euro seien dafür inzwischen aufgewendet worden, resümierte Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer. "Wie kommen wir aus dieser Machtkonstellationsfalle heraus?" Am schlimmsten sei, dass für viele Patienten diagnostische und therapeutische Chancen versäumt worden seien, die die Bündelung der Daten bietet, ergänzte die Kinderärztin Annette Grüters-Kieslich, Vorstandsvorsitzende und leitende Ärztliche Direktorin des Universitätsklinikums Heidelberg.  Die Kinderärztin wies aber auch darauf hin, dass die elektronische Datenerfassung häufig am Geld scheitert: "Das Früherkennungsprogramm für Kinder arbeitet immer noch mit den altbekannten gelben Heften."

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) warnte in seiner Rede vor weiteren Verzögerungen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens. "Es ist die Frage: Gestalten wir das, oder kommt das von außen?" Spahn mahnte an, "schneller, als das bisher gelingt", Standards für die Zulassung neuer digitaler Gesundheits-Angebote zu setzen.

"Digital vor ambulant vor stationär"

Soll in Zukunft gelten: Zuerst nach Diagnose- und Behandlungsangeboten im Internet schauen, dann entscheiden, ob man eine Arztpraxis oder eine Klinik aufsucht? "Digital vor ambulant vor stationär", so formulierte es beim Kongress Markus Müschenich, Vorstand des Bundesverbandes Internetmedizin. Zahlreiche schon bestehende Telemedizin-Angebote, nicht zuletzt aber die Erweiterungen der Erlaubnis zur Fernbehandlung, die der Deutsche Ärztetag vor kurzem beschlossen hat, eröffnen hier neue Möglichkeiten. "Wir müssen aber auch neu denken, wie wir Mediziner und Pflegekräfte für diese neuen Anforderungen ausbilden", forderte Grüters-Kieslich mit Blick auf Fernbehandlungen und elektronische Diagnose-Hilfen.

Wem gehören die Gesundheitsdaten?

Auch über die Verwendung der Daten müsse man neu nachdenken, gab Müschenich zu bedenken. "Inzwischen gibt es erste Start-ups, die sie kaufen wollen." Einerseits gibt es keinen Zweifel, dass die Daten den Patienten gehören. Andererseits sind sie teilweise im solidarisch finanzierten Gesundheitssystem erhoben worden, so dass sie der Gemeinschaft zumindest in anonymisierter Form für die Forschung zur Verfügung stehen müssen.

Wie die Gesundheitsdaten vernetzt werden sollten, wie man sie schützt und gleichzeitig optimal für die Forschung nutzt, diese Fragen werden uns in den nächsten Jahren begleiten. Nicht nur für Ada-Entwickler Martin Hirsch ist indes klar: "Das Gesundheitssystem der Zukunft beginnt auf dem Smartphone."

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