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Ein Porträtbild von Moische Kulbak in schwarz-weiß.

© Edition FotoTapeta

Berlin in den Zwanzigerjahren: Ein jiddischer Revolutionär in Berlin

In Berlin, dem vorübergehenden Zentrum der russischen Emigration, lebte ab 1920 auch Moische Kulbak. Er wurde nicht heimisch – und starb im „Großen Terror“.

Das legendäre „russische Berlin“ entstand nach der Russischen Revolution, als sich rund 300 000 russische Emigranten in der Stadt aufhielten. Weniger bekannt ist, dass unter den „Russen“ auch 40 000 Juden waren, die maßgeblich dazu betrugen, die deutsche Hauptstadt Anfang der zwanziger Jahre zu einem Zentrum jüdischer Kultur zu machten.

Von Berlin gingen wichtige Impulse in die jüdische Welt, vor allem in die USA: Es gab jiddische Zeitungen und Verlage, jüdische Enzyklopädie- und Archivprojekte, Hilfsorganisationen und Ableger politischer Gruppierungen.

1920 kam auch der 1896 im weißrussischen Schtetl Smorgon geborene Moische Kulbak aus dem jüngst polnischen gewordenen Wilna nach Berlin, ein Literat und zu diesem Zeitpunkt noch ein Anhänger der Revolution. Er war einer der Exilanten, die in der 20er-Jahre-Metropole bittere Armut litten, in ihre Heimat zurückkehrten und dies letztlich mit dem Leben bezahlten. In Deutschland wurden seine literarischen Werke aktuell neu aufgelegt – Anlass genug für eine Spurensuche.

"Ich bin in Berlin - in Europa"

In Wilna hatte Moische Kulbak schon einen Ruf als Lyriker. Dass ihn in Berlin keiner kannte, tat seinem Enthusiasmus zunächst keinen Abbruch. „Ich bin gerade in Berlin“, schrieb er an einen Freund. „Nun bin ich also in EUROPA angekommen.“ Der 24-Jährige wollte nicht nur die Klassiker studieren und sich an der Friedrich-Wilhelms-Universität einschreiben – wobei Letzteres wohl an seinen schlechten Deutschkenntnissen scheiterte.

Es ging ihm auch um ein kollektives Ziel: Kulbak wollte die jiddische Literatur an die Moderne anschließen und ihr im Kreis der europäischen Literaturen Anerkennung verschaffen. Das pulsierende Berlin schien ihm der beste Ort, um seinen Plan umzusetzen.

In seinem Essay „Das jiddische Wort" hatte Kulbak 1918 formuliert: „Ein eigener Turgenjew (…), der uns das jiddische Wort singt, (…) muss uns erst noch erstehen. Aber er wird kommen – die Liebe zum Jiddischen wird einen solchen Poeten inspirieren.“ Aus dem Volkstümlichen kommend, solle die Dichtung, auf Basis der Klassiker der jiddischen Literatur, weiter verfeinert werden und ihren Höhepunkt in der Avantgarde erreichen.

Die Avantgarde und wer sich dazuzählte, jedenfalls war schon in Berlin. Rund um den Ku’damm traf man sich in Cafés, wie etwa dem Romanischen Café, einem Stammlokal der deutschen Expressionisten. Dort fanden die oft bettelarmen russischen Juden einen beheizten Raum, frische Zeitungen, ein Telefon, Schachspiele – und Austausch.

Hier waren Befürworter und Gegner der Revolution, Zionisten, Orthodoxe, Liberale, Chassiden, Hebraisten und eben Jiddischisten. Dennoch soll sich Kulbak isoliert, von seinem Publikum abgeschnitten gefühlt haben. Abgesehen von seiner Tätigkeit als Souffleur für eine jiddische Theatertruppe und Texten, die er ebenfalls für wenig Geld an jiddische Blätter in Deutschland und im Ausland verkaufte, hatte er keine Verdienstmöglichkeiten – was ihn 1923 wohl auch zur Rückkehr nach Wilna bewegte.

Vom Großstadtleben der jungen Weimarer Republik findet sich in Kulbaks Werken, die in der Berliner Zeit entstanden, wenig. Stattdessen beschwört er die Landschaften des Ostens, wie in dem Versepos „Der Messias vom Stamme Efraim“, das 1924 im Berliner Wostok-Verlag erschien. Darin verknüpft er den jüdischen Mythos von den 36 Gerechten, die im Geheimen den Fortbestand der Welt sichern, mit einer Legende vom falschen Messias – und nutzt dabei Stilmittel des Expressionismus.

"Es kamen Regentage. Die Städte schwankten auf und nieder"

An den lakonischen Reihungsstil von Jakob van Hoddis’ Gedicht „Weltende“ erinnert diese Passage: „Es kamen Regentage. Die Städte schwankten auf und nieder, Haus für Haus. Die schmutzigen Gassen schaukelten, die alten übereinandergeschachtelten Dächer wiegten sich, grau und glitschig, mit dichten Schauern im Tanz. Schuster klopften mit ihren Hämmern. Im Badehaus wurde geheizt. Auf den Dächern standen die Essenkehrer. Von Weißrussland nach Zamosz, von Zamosz nach Litauen klopften und schrien die Städte einander zu wie über die Ebene verstreute riesige Uhren.“

1926 kam der „kleine Roman“ „Montag“ heraus, in dem Kulbak das Revolutionsthema zum ersten Mal in Romanform bearbeitete. Darin geht es um Mordke Markus, einen nachdenklichen Hebräischlehrer in Wilna, der hin- und hergerissen zwischen Tradition und Revolution, schließlich als „Konterrevolutionär“ exekutiert wird. In diesem Büchlein setzt sich Kulbak auch, wie seine Zeitgenossen Siegfried Kracauer und Alfred Döblin, Karl Kraus und Ernst Toller, mit dem Phänomen der Masse auseinander.

Wie er das schillernde Berlin der Roaring Twenties erlebt hat, verarbeitete Kulbak erst zehn Jahre später in dem Langpoem „Childe Harold aus Disna“ (1933), da lebte er schon in Minsk. Das Poem ist an ein Werk Lord Byrons angelehnt, in dem ein lebensüberdrüssiger junger Mann auf Reisen geht. Der Held, genannt „Vagabund“ und „Pfeifenmann“, stammt aus dem weißrussischen Städtchen Disna und bleibt in Berlin ein Außenseiter.

[Lesen Sie auch unseren Beitrag über die "Zwanziger Jahre in Berlin" - eine Zeitreise in Bildern]

Das Tempo der Stadt fasziniert ihn; die bürgerliche Welt widert ihn an: Der Fassadenhaftigkeit des Ku’damms mit Varietés und leichten Mädchen stehen die „grauen“ Arbeiterbezirke mit rauchenden Schornsteinen, „Leberwurst und Margarine“ gegenüber.

Trotz einer antibürgerlichen Zuspitzung erschöpft sich „Childe“ nicht in Schematismus, sondern erinnert an die satirischen Bilderbögen von George Grosz und Otto Dix. Die Straßenkämpfe zwischen rechts und links kommen vor, auch Andeutungen einer politischen Katastrophe fehlen nicht – wenig überraschend im Jahr der NS-Machtergreifung. Zum Schluss stoßen Bürger und Proletarier in einer apokalyptischen Begegnung aufeinander: „Goethe und Beethoven niedergemacht/ und ebenso den Kölner Dom! Die weiten Himmel grau verfaulen,/ wir werden grau von dem; wir – letzte Wölfe, die jaulen/ in den Ruinen von einem System.“

Ein Roman über den Untergang einer jüdischen Familie

Nach seiner Abreise aus Berlin 1923 arbeitete Kulbak zunächst als Lehrer in Wilna. Darüber hinaus engagierte sich der inzwischen in Osteuropa sehr populäre Schriftsteller als Präsident des neu gegründeten jiddischen PEN-Clubs. Ab 1928 lebte er, inzwischen verheiratet, in Minsk, wo Jiddisch als eine der vier offiziellen Amtssprachen von den sowjetischen Behörden zunächst gefördert wurde. Von 1930 an war er Mitarbeiter der jüdischen Sektion des Inbelkult, des Weißrussischen Kultur-Instituts.

In Minsk entstand auch sein reifstes und Hauptwerk, der Roman „Selmenianer“, der zunächst in Fortsetzungen in der jiddischen Zeitung „Shtern“ erschien. Hier beschäftigte sich Kulbak abermals mit dem Revolutionsthema. Der Roman begleitet eine traditionelle jüdische Familie in Minsk über mehrere Generationen hinweg. Trotz vieler grotesker Szenen, die die Folgen der Sowjetisierung darstellen, zum Beispiel bei der Elektrifizierung des Hofs oder der Alphabetisierung der älteren Selmenianer, wird im Grunde vom Untergang einer jüdischen Familie und vom Ende einer Traditionslinie erzählt.

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Obwohl Kulbak noch versuchte, einen jüngeren Selmenianer als sozialistischen Helden zu profilieren, bleibt sein Fazit doch ein negatives. Gegen Ende heißt es: „Nun lag der Hof ganz still da, wie ein Flussbett, aus dem das Wasser abgeleitet worden war. Nichts geschah. Die Revolution war durch ihn durchmarschiert und hatte dabei die Menschen vom Rebse-Hof, die sie gebrauchen konnte, mitgenommen; der Rest blieb liegen wie aufgebrochene Eierschalen.“

Auch Kulbaks Hoffnungen, der jiddischen Sprache und Kultur in Minsk dauerhaft einen Platz zum Überleben zu sichern, scheiterten, wie die Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein in ihrem Nachwort zu den „Selmenianern“ schreibt. 1934 kritisierte der Kritiker Jasche Bronstein ihn wegen angeblichem „Biologismus und Volkismus“. 1936 warf ihm der Kritiker A. Damesek (eigentlich Avrom-Aisik Damesek) vor, die „Überwindung“ des Judentums zu bedauern.

Seine Kritiker wurden kurz nach ihm erschossen

Im September 1937 wurde der Lyriker, Romancier und Dramatiker Moische Kulbak wegen angeblicher „Beteiligung an einer konterrevolutionären terroristischen Vereinigung und Spionage für Polen“ verhaftet und nach einem Schauprozess am 29. Oktober in Kurapaty bei Minsk erschossen. Es gehört zu den bitteren Pointen des stalinistischen „Großen Terrors“, dass seine beiden Kritiker kurz nach ihm erschossen wurden.

Das Schicksal von Kulbaks Familie ist nicht weniger erschütternd. Seine Frau Selde wurde zu zehn Jahren Straflager verurteilt, die beiden Kinder in Heime gebracht. Seiner Schwester Tonja gelang es, die Kinder zu finden und in ihre eigene Familie aufzunehmen. Im Juni 1941 flohen sie aus Minsk vor den anrückenden Deutschen. Trotzdem wurden die meisten von deutschen Einsatzkräften umgebracht.

Kulbaks Frau und eine Tochter überlebten den Gulag und den Holocaust

Selde wurde 1946 aus dem sowjetischen Straflager entlassen. Sie starb 1973. Kulbaks Tochter Raja überlebte den Holocaust und emigrierte 1990 nach Israel.

Derzeit sind vier Bücher von Moische Kulbak in neuen Editionen erhältlich: Der Messias vom Stamme Efraim. Roman. Aus dem Jiddischen und mit einem Nachwort von Andrej Jendrusch. Wagenbach-Verlag, Berlin 2018. 144 S., 18 Euro. Montag. Ein kleiner Roman. Aus dem Jiddischen von Sophie Lichtenstein. Edition FotoTapeta, Berlin 2017. 120 S., 12,80 Euro. Childe Harold aus Disna. Gedichte über Berlin. Aus dem Jiddischen von Sophie Lichtenstein. Edition FotoTapeta, Berlin 2017. 96 S., 10 Euro. Die Selmenianer. Roman. Aus dem Jiddischen von Niki Graça und Esther Alexander-Ihme. Mit einem Nachwort von Susanne Klingenstein. Verlag Andere Bibliothek, Berlin 2017. 396 S., 42 Euro.

Judith Leister

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