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Porträtbild von Christiane Nüsslein-Volhard, die in einem Ausstellungsraum steht.

© imago/VIADATA

Begegnung mit Christiane Nüsslein-Volhard: Von klugen Genen und der Attraktivität der Fliegen

Ansichten einer Pionierin: Nobelpreisträgerin Nüsslein-Volhard spricht über die Liebe zum Lebendigen, Forscherinnen-Ehrgeiz und die Fallstricke der Ehrfurcht.

Die Tante ist jetzt sehr stolz auf den Neffen. Benjamin List vom Max Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr hat bekanntlich vor wenigen Tagen den Nobelpreis für Chemie zuerkannt bekommen, für seine Forschungen zu organischen Katalysatoren. Am Namen kann man es nicht gleich erkennen, doch der frisch gekürte Nobelpreisträger ist der Sohn der älteren Schwester von Christiane Nüsslein-Volhard.

Die Entwicklungsbiologin weiß als Nobelpreisträgerin für Physiologie oder Medizin von 1995, wie man sich fühlt, wenn der Anruf aus Stockholm kommt. „Das ist schon toll, da hüpft man ganz schön“, erzählte sie jetzt im Gespräch mit der Wissenschaftsjournalistin Monika Seynsche Im Kunsthaus Wiesbaden.

Passend zur dort gerade gastierenden Ausstellung von Bildern der Fotografin Herlinde Koelbl, die in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Künste (BBAW) konzipiert und dort zuerst gezeigt wurde, ging es um das Thema „Faszination Wissenschaft“. Ein Katalog zur Ausstellung ist unter dem Thema „Faszination Wissenschaft. 60 Begegnungen mit wegweisenden Forschern unserer Zeit“ im Knesebeck-Verlag erschienen.

„Wir wollten wissen, wie Leben entsteht“

Zunächst aber hatte Nüsslein-Volhard noch etwas zu ihrem Nobelpreis zu ergänzen. Neben der Freude gab es nämlich damals auch eher beklemmende Gedanken: „Oh Gott, wenn die Leute jetzt vor mir in Ehrfurcht erstarren, das ist ja grässlich!“

Ein Nebengedanke galt auch der Zielsetzung des Preises, mit dem erklärtermaßen Forscher geehrt werden sollen, die der Menschheit den größten Nutzen gebracht haben. „Für den Nutzen haben wir uns ja nicht interessiert, wir wollten wissen, wie Leben entsteht.“

[Anekdoten über Nobelpreisträger:innen finden Sie hier: Königliche Rügen und nobelpreistragende Nobelpreisträger-Schwiegermütter]

Tatsächlich bedeutete ihre Entschlüsselung genetischer Vorgänge, die die Entwicklung von Tier und Mensch steuern, einen großen Fortschritt auf dem Weg zum Verständnis der Wirkungsweise von Genen. Einen Erkenntnisgewinn, der wiederum auch die Entwicklung neuer Medikamente ermöglicht.

Für Leben, für Tiere und Pflanzen, hat die Forscherin sich schon als Kind interessiert. Für sie war der weitere Lebensweg folgerichtig: „Wir hatten einen guten, anregenden Biologie-Unterricht. Dann macht man Diplom, versucht eine Doktorandenstelle zu bekommen – und dann ist man gefangen.“ Es mache ihr einfach so viel Spaß, etwas zu entdecken, auch heute noch.

Wissenschaft als Hochleichstungsberuf

Das klingt ganz unprätentiös und selbstverständlich, doch die Nobelpreisträgerin lässt keinen Zweifel daran, dass es eine Entscheidung ist, die auch die Vereinnahmung von Lebenszeit beinhaltet. Lebenszeit, die dann für andere, private Inhalte fehlt. „Es ist ein Hochleistungsberuf. Und man kann nicht alles wollen.“

Sie steht zu ihrer – vor Jahren schon kontrovers diskutierten – Meinung, dass Spitzenforschung „in Teilzeit“ nicht gelingen kann. „Es gibt ganz viele Frauen, die das nicht wollen – immer noch.“ Ob es nicht inzwischen auch etliche solcher Männer gibt, die sich dem Dauerstress der Spitzenforschung nicht aussetzen wollen, wurde im Gespräch nicht thematisiert.

Großaufnahme einer Fruchtfliege.
Manche Schönheit lässt sich nur unter dem Mikroskop entdecken - so auch die der Fruchtfliege Drosophila melanogaster.

© S. Karberg

Als Christiane Nüsslein-Volhard 1995 den Nobelpreis für Medizin erhielt, war sie jedenfalls die erste weibliche Wissenschaftlerin aus Deutschland, die diese Auszeichnung errang. Schon als Doktorandin habe sie diskriminierende Erlebnisse gehabt, berichtet sie heute. Ein Kollege gemahnte sie damals sogar an ihre „Verpflichtung, ihre klugen Gene weiterzugeben“.

Im Jahr 2004 gründete Nüsslein-Volhard, die zwischen 2001 und 2006 auch Mitglied des von Kanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufenen Nationalen Ethikrates war, ihre Stiftung zur Unterstützung junger Wissenschaftlerinnen mit Kindern. Das Geld sollten etwa Doktorandinnen, die ihre „klugen Gene“ schon weitergegeben hatten, verwenden, um Haushalts-Aufgaben zu delegieren.

Dass sie selbst inzwischen als Frau keine Exotin mehr ist im Kreis preisgekrönter Koryphäen der Wissenschaft, ist für Nüsslein-Volhard auf jeden Fall eine großartige Entwicklung. „Am besten ist, man guckt da gar nicht mehr hin und fragt nicht nach Mann und Weib“, sagt die Biologin.

Unter dem Mikroskop ist auch die Fliege schön

Die Forscherin, oft als „Herrin der Fliegen“ tituliert, weil sie ihre genetischen Entdeckungen zur Embryonalentwicklung an der Taufliege Drosophila melanogaster machte, hat sich inzwischen vermehrt den Fischen zugewandt. Wie kommen die Zebrafische zu ihren Streifen, warum sind Fische überhaupt oft so bunt? Es ist das Phänomen der Musterbildung, das die Biologin interessiert, aber es ist zugleich die Freude am Anblick der Tiere.

„Tiere können sehr schön sein. Ich gehe auch gern in den Zoo und schaue mir das an“, erzählt die Autorin eines Buches über „Die Schönheit der Tiere: Evolution biologischer Ästhetik“ (Verlag Matthes & Seitz 2017). Interessant in diesem Zusammenhang: „Nur der Mensch hat gelernt, sich zu schmücken, das ist ein Alleinstellungsmerkmal.“ Ein neues Thema für die Entwicklungsbiologin? Klar ist: Manche Schönheit lässt sich nur unter dem Mikroskop entdecken. „Die Fliege ist auch attraktiv. Sie hat eine schöne Struktur.“

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Erfahrungen mit dieser Anziehungskraft von Tieren und Pflanzen sind in ihren Augen auch wichtig, um Menschen zum Kampf gegen das Artensterben zu motivieren. Entscheidend sei zudem eine umfassende Allgemeinbildung der Bürger und Bürgerinnen: „Wenn wir unsere Umwelt schützen wollen, müssen wir auch etwas davon verstehen.“ Dadurch kann sich ihrer Ansicht nach auch die Einstellung zur „grünen Gentechnik“ verändern: Man brauche sie, „und gerade Techniken wie Crispr-Cas müssen wir zulassen“.

Die Corona-Pandemie hat der Wertschätzung für naturwissenschaftlich-medizinische Bildung möglicherweise einen gewissen Schub gegeben. Viele Menschen hätten verstanden, dass es sich lohnt, Informationen über Viren, Bakterien und die Wirkweise von Impfstoffen aufzunehmen, meint Nüsslein-Volhard. Dass es in ihrer eigenen Verwandtschaft Impfverweigerer gebe, die sie nicht überzeugen könne, bringe sie aber zur Verzweiflung.

Die Schnelligkeit der Impfstoff-Entwicklung begeistert sie, das Prinzip der mRNA-Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 empfindet die Biologin als „richtig elegant“. Wenn es nach ihr ginge, würde der Nobelpreis für Medizin im kommenden Jahr den BionTech-Forscher:innen zugesprochen, dem Ärzte-Ehepaar Özlem Türeci und Ugur Sahin und der Biochemikerin Katalin Karikó, die vor kurzem den Paul Ehrlich-Preis entgegen nehmen konnten.

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