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In der Universitätsfrauenklinik in Leipzig hängen Abbildungen von Eizellen mit Spermien nach einer künstlichen Befruchtung. 

© Waltraud Grubitzsch/dpa

Befürchtete Fruchtbarkeitskrise: Was hinter dem angeblichen Spermienschwund steckt

Die Medizinerin Shanna Swan sieht die Menschheit gefährdet, weil Männer weniger Spermien bilden. Ein Androloge hält das für übertrieben – und hat eine Warnung.

Das Überleben der Menschheit ist bedroht – zumindest, wenn es nach der US-amerikanischen Umweltmedizinerin Shanna Swan geht. In ihrem kürzlich erschienenen Buch „Count Down“ berichtet die Wissenschaftlerin an der New Yorker „Ican School Of Medicine at Mount Sinai“, dass eine Fruchtbarkeitskrise eine ähnlich große Gefahr für den Menschen bedeutet wie die Klimakrise.

Hintergrund ist eine Studie aus dem Jahre 2017, nach der die Zahl der Spermien pro Mann in westlichen Ländern zwischen 1973 und 2011 um bis zu 60 Prozent gesunken ist. Zu den betroffenen Weltregionen zählen Nordamerika, Europa, Australien und Neuseeland. Traut man den Modellierungen Swans, könnte die Zahl der Spermien bis zum Jahr 2045 auf null sinken. Das würde bedeuten: keine natürlich gezeugten Babys mehr und eine Bedrohung für den Fortbestand der Menschheit.

Verantwortlich für den Spermienschwund sind Swan zufolge unter anderem Chemikalien in Plastikprodukten, Kosmetikartikeln oder Pestiziden. Neuere Studien machen auch zunehmende Fettleibigkeit, veränderte Ernährungsgewohnheiten und Umweltgifte für gesunkene Spermienzahlen verantwortlich. Kann es wirklich sein, dass die Weltgemeinschaft in eine existenzielle Fruchtbarkeitskrise schlittert?

Eine solche Frage weiß die Andrologie, das männliche Pendant zur Gynäkologie, zu beantworten. Ein Anruf bei Stefan Schlatt, dem Direktor des Centrums für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätklinikum Münster: „In den westlichen Ländern hat die durchschnittliche Spermienzahl in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich abgenommen“, sagt der Wissenschaftler Schlatt. „Panik ist jedoch völlig unangebracht. Es gibt mehrere mögliche Gründe für diesen Rückgang, die nicht dramatisch sein müssen.“

Sorgen macht dem Andrologen etwas anderes: „Die Zahl der Entwicklungsstörungen im männlichen Reproduktionssystem nimmt zu, insbesondere Hodenkrebs wird häufiger. Eine Ursache für dieses Phänomen zu finden, ist ein viel wichtigeres und drängenderes Problem als die immer noch in einen unbedenklichen Bereich gesunkene Spermienzahl.“

Spermienzahl hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab

Zum einen gingen gesunkene Spermienzahlen gut möglich auf methodische Schwierigkeiten in Studien der vergangenen Jahrzehnte zurück: Eine dieser Schwierigkeiten ist laut Schlatt das Einhalten von mehrtägigen Ejakulationspausen vor einem Samenerguss, der für die Spermienzählung in einem Behälter landet.

Stefan Schlatt ist Direktor des Centrums für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätklinikum Münster.
Stefan Schlatt ist Direktor des Centrums für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätklinikum Münster.

© Universitätsklinikum Münster

„Die Spermienzahl in einem Ejakulat hängt auch davon ab, wie oft der Mann beim Geschlechtsverkehr oder der Selbstbefriedigung ejakuliert. Je öfter jemand ejakuliert, desto mehr leert sich der Samenspeicher in den Nebenhoden und desto geringer fällt die Spermienzahl aus.“

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Das Einhalten dieser Pause ist in den Studien allerdings nicht kontrollierbar und die Versuchsleiter müssen ihren Probanden glauben. Damit könnte jedoch auch die Spermienzahl zwischen Studien stark schwanken. Vernachlässigen viele Probanden bei einer Studie die Pause vor dem Samenerguss, ist die Spermienzahl in den Proben nach unten verzerrt.

Gesunkene Spermienzahlen nur im Westen beobachtet

„Ein Mann, der sich vor 40 Jahren überwunden hat und wegen ausbleibender Schwangerschaft zum Andrologen gegangen ist, hat sich möglicherweise eher an die Karenzzeit gehalten, als Studienteilnehmer in späteren Studien.“ Alleine schon aus diesem Grund könnten aktuellere Spermienzahlen geringer ausfallen als in der Vergangenheit. Allerdings lässt sich diese Annahme nicht mehr im Nachhinein kontrollieren.

„In arabischen oder asiatischen Ländern gehen die Spermienzahlen jedenfalls nicht wirklich zurück“, macht Schlatt deutlich. Auch hier sei allerdings unklar, woran das liegt. „Deutsche Männer ejakulieren mehrmals die Woche, wodurch die Spermienspeicher nie ganz voll werden. Aus diesem Grund könnte die Spermienzahl bei Samenergüssen vergleichsweise geringer ausfallen.“ Möglicherweise seien arabische oder asiatische Männer weniger aktiv, weshalb die erfasste Spermienzahl bei Stichproben höher ausfällt – das bleibt allerdings eine Vermutung.

Für die Spermienzählung geben Versuchsteilnehmer von Studien Proben in Behältern ab.
Für die Spermienzählung geben Versuchsteilnehmer von Studien Proben in Behältern ab.

© BSIP/UIG Via Getty Images

Der Androloge Schlatt fügt hinzu: „Ein Mann zählt laut Weltgesundheitsorganisation erst dann als unfruchtbar, wenn weniger als 15 Millionen Spermien je Milliliter Ejakulat vorhanden sind.“ Von dieser Grenze sei die übliche Spermienzahl von deutschen Männern jedoch weit entfernt.

Umweltgifte stören Sexualentwicklung von Meerestieren

„Wenn beispielsweise alle zwei Tage ein Samenerguss erfolgt, ist bei einem gesunden Mann immer noch mit etwa 60 bis 70 Millionen Spermien pro Milliliter zu rechnen. Das ist in der Regel mehr als genug für die Befruchtung einer Eizelle.“

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Und der Einfluss von Chemikalien? „Umweltgifte wie hormonell wirksame Weichmacher können den menschlichen Körper beeinflussen. Bisher gibt es allerdings noch keinen belegbaren Effekt auf die Größe der Hoden bei Männern oder auf ihre Spermienproduktion.“

Sorgen bezüglich der Umweltgifte würden vor allem mit Blick auf Wassertiere wie Meeresschildkröten oder Muscheln geäußert. Laut dem Biologen  kann der in Plastik enthaltene Weichmacher Bisphenol A hormonell auf aquatische Lebewesen wirken, das hormonelle Gleichgewicht stören und so die Sexualentwicklung negativ beeinflussen.

In Laboren lässt sich eine 80- bis 100-fache Vergrößerung der Befruchtung einer Eizelle mit einer Injektionspipette betrachten.
In Laboren lässt sich eine 80- bis 100-fache Vergrößerung der Befruchtung einer Eizelle mit einer Injektionspipette betrachten.

© Waltraud Grubitzsch/dpa

Auch Shanna Swan weist auf Bisphenol A als eine von vielen Chemikalien in der Umwelt hin. „Mit den Spermien der Männer hat das allerdings wenig zu tun“, sagt der Forscher. Schlatt richtet den Blick auf eine gesellschaftliche Entwicklung: „Frauen mit Kinderwunsch werden immer älter.

„Völlige Überinterpretation“ der Datenlage

Mit 35 Jahren steht eine Frau jedoch kurz vor dem Ende der Fruchtbarkeit.“ In so einer Situation werde die Spermaqualität des Mannes umso wichtiger, um überhaupt noch ein Kind zu zeugen. „Dadurch könnte der Eindruck entstehen, dass wir immer unfruchtbarer werden, obwohl dies wahrscheinlich gar nicht der Fall ist.“

Shanna Swans Ausführungen zu einer drohenden „Fruchtbarkeitskrise“ hält der Reproduktionsbiologe Schlatt letztlich für eine „völlige Überinterpretation“ der Datenlage. Am Ende sei die Spermienzahl in Stichproben von mehreren Faktoren abhängig, die häufig nicht einfach kontrollierbar seien.  

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