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Rekonstruktion des Gesichts von Australopithecus anamensis.

© Dale Omori/CMNH

Australopithecus anamensis: Vormensch bekommt ein Gesicht

Anthropologen haben in Äthiopien einen 3,8 Millionen Jahre alten Schädel ausgegraben. Die Fund ändert den Blick auf die menschliche Evolution.

„Lucy“ ist das wohl bekannteste Fossil eines Vorfahren des Menschen. Gefunden 1974 in Äthiopien und benannt nach dem während der Expedition laufenden Beatles-Song „Lucy in the Sky with Diamonds“ steht das 3,2 Millionen Jahre alte Skelett eines Australopithecus afarensis für einen wichtigen Moment des Übergangs vom Affen zum menschenähnlicheren, aufrecht laufenden Homininen.

Sehr viel weniger Aufmerksamkeit bekam bislang ein naher Verwandter Lucys: Australopithecus anamensis. Aus nur wenigen Zähnen, Kiefer- und Skelettknochen konnten sich Anthropologen nur ein unvollständiges Bild von der Art machen, die bisherigen Erkenntnissen zufolge vor Lucy lebte, vor etwa 4,2 Millionen bis vor 3,9 Millionen Jahren.

Der Schädel des Australopithecus anamensis.
Der Schädel des Australopithecus anamensis.

© CMNH/Dale Omori

Dass es sich dabei um die direkten Vorfahren Lucys handelt, diese Interpretation muss nun überdacht werden. Das schreiben Yohannes Haile-Selassie und Kollegen im Fachblatt „Nature“. Im äthiopischen Sand fand ein Expeditionsteam um den Anthropologen vom Cleveland Museum of Natural History in den USA den Schädel eines 3,8 Millionen Jahre alten A. anamensis. „Dieses Cranium könnte eine weitere gefeierte Ikone der menschlichen Evolution werden“, meint Fred Spoor vom Max Planck Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Fund zwingt zum Überdenken bisheriger Theorien

Mit einem ähnlich einprägsamen Spitznamen kann „MRD-VP-1/1“, so die offizielle Sammlungsnummer des Fossils, bislang zwar nicht aufwarten. Doch der Schädel, wahrscheinlich von einem ausgewachsenen und männlichen Individuum, hält eine Fülle von Informationen bereit und der Fund werde „das Nachdenken über den evolutionären Stammbaum der frühen Hominine wesentlich beeinflussen“, so Spoor in einem „Nature“-Kommentar.

Der Schädel bestätigt zwar, dass A. anamensis wohl die Ur-Form der Australopithecinen war, weil er die meisten „primitiven“ Merkmale aufweist – etwa die langgezogene, schmale Schädelkapsel und das vorgewölbte Gesicht. Doch Form und Größe der Schädelkapsel erinnern stark an ein viel älteres Primatenfossil: Sahelanthropus, der vor sieben Millionen Jahren lebte. Das nährt Zweifel an der Theorie, dass A. afarensis eine direkte Weiterentwicklung von A. anamensis ist, also nur zeitlich aufeinanderfolgende „Spielarten“ einer Spezies seien.

Arten lebten 100.000 Jahre nebeneinander

Dieser Theorie widerspricht auch, dass die Forscher eine Reihe von Merkmalen an dem MRD-Schädel als „höherentwickelt“ einstufen, die an den jüngeren Fossilien von A. afarensis aber „primitiv“ ausgeprägt sind. Außerdem stimmt die zeitliche Abfolge der Australopithecinen-Evolution nicht: Als Haile-Selassies Team zuvor entdeckte Schädelfragmente, die bislang A. afarensis zugeschrieben wurden, mit dem MRD-Schädel verglich, mussten sie einige doch A. anamensis zuordnen.

Das bedeutet, dass A. anamensis vor 4,2 Millionen bis vor 3,8 Millionen Jahren lebte und A. afarensis von vor 3,9 Millionen bis 3,0 Millionen Jahren. Beide Arten existierten also mindestens 100.000 Jahre lang nebeneinander – und „Lucy“ ist demnach eher keine direkte Nachfahrin von „MRD“.

Einen Beitrag zur Aufklärung der Evolution des Menschen wird die neue „Ikone“ der Anthropologie dennoch leisten. Welchen genau, dazu wird es jedoch mehr Forschung und vor allem noch viel mehr spektakuläre Funde brauchen als nur einen Schädel.

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