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Faser-Gefahr. Bei Asbestsanierungen sind Schutzanzüge vorgeschrieben. Früher musste kontaminierte Berufskleidung meist zu Hause gewaschen werden. Wer heute deswegen erkrankt, kann meist mit Entschädigung rechnen – nicht aber in Deutschland.

© mauritius/Alamy Stock Photo

Asbestaltlasten: Aggressiver Krebs aus zweiter Hand

Frauen, die ihren Männern die asbestverseuchte Arbeitskleidung wuschen, können an Brustfellkrebs erkranken. Entschädigt wird das in Deutschland nicht.

Marlene Zepp ist ehemalige Sportlehrerin, eine agile und vitale Frau, die mit 78 Jahren noch die roten Pisten auf Skiern hinuntersaust. Doch eines Tages wird sie kurzatmig. In der Ultraschallaufnahme sieht der Arzt Wasser um die linke Lunge. Sie muss sofort ins Krankenhaus. Die Mediziner in der Thoraxklinik Heidelberg entdecken im Januar 2015 ein Pleuramesotheliom, einen hochaggressiven Brustfellkrebs. „Ich wusste sofort: Das ist ein Todesurteil“, sagt die Tochter, Birgit Löffler, die als Hausärztin praktiziert. Und: Der an sich sehr seltene Tumor geht eigentlich immer auf Asbestfasern, manchmal auch in geringen Mengen, zurück.

Hunderte erkranken jährlich an asbestbedingten Tumoren

Ihre Mutter hat nie mit Asbest gearbeitet, wohl aber ihr vor langer Zeit bei einem Unfall verstorbener Mann. Dreißig Jahre trug er bei der Hoechst AG Schutzkleidung, die mit den Fasern belastet wurde. Frau Zepp wusch sie zu Hause – wie im Arbeitsvertrag vorgeschrieben.

Jedes Jahr erkranken hierzulande rund 500 Personen an dem asbestbedingten Tumor, die selbst nicht mit der Faser gearbeitet haben, schätzt der Berliner Arbeitsmediziner Xaver Baur. Sie bezahlen mit ihrer Gesundheit für die kapitale Leichtfertigkeit in den Betrieben seinerzeit: Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts war bekannt, dass Asbestfasern gefährlich sind, weshalb Versicherer belasteten Arbeitern keine Lebensversicherung gewährten. Dessen ungeachtet setzte der eigentliche Boom der natürlichen Fasern erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Bis in die neunziger Jahre war das hochgradig feuerfeste Material fast überall anzutreffen, wo hohe Temperaturen auftraten: in Schutzanzügen und -handschuhen, in Bremsbelägen, in Nachtspeicheröfen und Thermoskannen. Den damaligen Arbeitsverträgen zufolge mussten Beschäftigte ihre Dienstkleidung meist zu Hause waschen. Oft erledigten diese Hausarbeit die Ehefrauen, die so die Fasern beim Ausschütteln und Aufhängen der Textilien einatmeten. In den Nachbarländern – der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich – werden diese häuslichen Asbestopfer über Fonds entschädigt. Nicht so in Deutschland.

Der Bundesverband Asbestose (eine andere, oft schwere, durch das Mineral ausgelöste Erkrankung) fordert zwar seit Langem eine Angleichung. Die Konferenz der Gesundheitsminister fasste im letzten Jahr zwar einen Beschluss, wonach die Regierung eine Entschädigung prüfen sollte. Aber geschehen ist nichts.

Bis zu 60 Jahre kann es dauern, bis der Krebs ausbricht

Asbestfasern dringen tief in die Lungenbläschen ein. Die Fresszellen, die gewöhnlich Fremdstoffe ausschleusen, schaffen dies bei den harten mineralischen Fasern nicht. Sie sterben sogar ab. Dabei werden chronisch Entzündungsstoffe frei. Über eine Latenzzeit von bis zu 60 Jahren kann so Krebs entstehen, vor allem Mesotheliome, Lungen-, Kehlkopf- und Eierstockkrebs. „Wir sehen erst jetzt den Gipfel der Erkrankungswelle“, sagt Inke Feder vom Deutschen Mesotheliomregister an der Ruhr-Universität Bochum.

Immer wieder behaupten allerdings sogar Experten, die Fasern wirkten nicht derart lange und würden nach und nach ausgeschieden. Doch Feder belegte in einer 2017 erschienenen Studie, dass der Gehalt an Asbest über vierzig Jahre im Lungengewebe gleich bleiben kann: „Wir konnten das bei ein und denselben Patienten anhand mikroskopischer Untersuchungen nachweisen.“

Jährlich werden rund tausend Mesotheliompatienten als Berufskranke anerkannt. 1600 Fälle registrierte das Robert-Koch-Institut 2014. „Es gibt eine Diskrepanz von gut 500 Fällen im Jahr, die offensichtlich nicht durch die Arbeit bedingt sind“, sagt Baur. Darunter seien Angehörige, die zu Hause belastet wurden, und Heimwerker, die sich nicht ausreichend geschützt haben. Womöglich sterben auch einige Patienten, bevor die Berufsgenossenschaften ihren Fall nach monatelangem Procedere anerkennen. Denn es gibt keine spezifischen Therapien für diese seltene Krebsart. Weil die Zahl der betroffenen Patienten verglichen mit anderen Tumorleiden klein ist, investiert die Pharmaindustrie kaum. Ausgewiesene Spezialisten sind selten. Die Folge: Die Patienten sterben gewöhnlich innerhalb eines Jahres, Männer deutlich schneller als Frauen.

"Viele Asbestsanierungen erfolgen nicht fachgerecht"

Marlene Zepp ist 2014 aber noch so rüstig, dass sie dem Schicksal trotzen und um ihr Leben kämpfen will. Sie bekommt Chemotherapie und Bestrahlung. Der Tumor bildet sich zurück. Sie erinnert sich in dieser Zeit an etwas Wichtiges: Von 1960 bis 1963 hatte sie bei Höchst als Sekretärin gearbeitet, in dem Betrieb, in dem auch ihr Mann in der Phosphorproduktion tätig war. Sie saß zwar am Schreibtisch. Im Treppenhaus begegneten ihr jedoch die Arbeiter mit ihren verstaubten, asbestbelasteten Anzügen. Gelegentlich musste sie auch einmal einen eiligen Brief in die Produktion bringen. Zwar hat sie sicher viel mehr Fasern beim Waschen der Kleidung ihres Mannes eingeatmet. Sie fragt sich aber, ob sie aufgrund dieser drei Jahre eine berufliche Belastung und damit eine Entschädigung geltend machen kann und wendet sich an die auf solche Fälle spezialisierte Kanzlei Battenstein bei Düsseldorf.

Wenngleich seine Anwendung in Deutschland seit 1993 verboten ist, ist Asbest alles andere als verschwunden. Es steckt in Fußbodenklebern, in altem Mauerwerk, Spritzputz, Isoliermaterialien, Straßenbelägen und in Fahrstuhl- und Rolltreppenschächten. Diese dürfen Arbeiter nur mit Schutzanzug und Atemmaske sanieren. Das Gebäude müsste dafür eigentlich in Plastikfolien eingehaust und die Luft aus dem Inneren permanent mit Pumpen abgesaugt werden. Viele Bauten aus den fünfziger und sechziger Jahren dürften betroffen sein. Warum sieht man nur so selten Bauarbeiter im Ganzkörperschutzanzug?

„Ein Großteil der Sanierungsarbeiten erfolgt nicht fachgerecht, die strengen Vorschriften werden nicht eingehalten, weshalb besonders in den großen Städten die Luft ständig mit Asbestfasern kontaminiert wird“, klagt der Arbeitsmediziner Baur. Er selbst zeigte erst kürzlich einen Betrieb – ein ausgewiesenes Asbestsanierungsunternehmen aus Berlin – bei der Polizei an, als dieses sein Nachbarhaus ohne Schutzmaßnahmen zu sanieren begann, obwohl darin nachweislich die krebserzeugenden Fasern steckten. Der Bundesverband Asbestose fordert aufgrund dieses Missstands ein öffentliches Asbestkataster, in dem Eigentümer, Käufer, Verkäufer und Bauherrn nachschauen können, in welchen Immobilien die Fasern stecken.

Asbest ist nicht in allen Ländern verboten

Aufgrund von Bauarbeiten finden sich in Großstädten wie Berlin üblicherweise einige hundert Asbestfasern pro Kubikmeter Luft. Hinzu kommen Regelungslücken: Etwa darf bei Arbeiten in Steinbrüchen Asbest in die Luft gelangen. „Diese breite Kontamination der Umwelt besonders in den Städten bedingt auch Krebsfälle, denn es gibt keine praktische untere Belastungsgrenze“, sagt Baur. Allerdings gibt es auch Studien laut deren niedrige Dosen ungefährlich zu sein scheinen.

In vielen Ländern ist das Material auch nach wie vor erlaubt. 2017 wurden 1,3 Millionen Tonnen Asbest weltweit abgebaut. Über Internetverkäufe können etwa asbestgedämmte Thermoskannen noch immer nach Deutschland gelangen.

2016 wächst der Tumor in Marlene Zepps Körper wieder. Chirurgen entfernen eine Rippe. Doch von da an geht es ihr schlechter. Es sammelt sich ständig Wasser um die linke Lunge. „Ihr Leben bestand nur noch aus den drei Worten: Angst, Atemnot und Schmerzen“, erinnert sich die Tochter. Im Herbst 2017 stirbt Zepp in einem Hospiz mit einer schmerzlindernden Morphiumpumpe. Es sei „ schrecklich“ gewesen, sagt Löffler.

Danach kämpft die Tochter weiter vor Gericht um Gerechtigkeit für ihre Mutter. Ein Jahr nach deren Tod wird das Leiden im Herbst 2018 wegen der drei Berufsjahre in dem asbestverarbeitenden Betrieb als Berufskrankheit anerkannt. Es bringt Frau Zepp nichts mehr, doch sie hätte eine Rente bekommen – aber eben nicht wegen der Hausarbeit, die ihr wahrscheinlich die Krankheit brachte.

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