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Vegetarier. Der 2010 auf der nordphilippinischen Insel Luzon entdeckte Waran ernährt sich nur von Pflanzen.

© picture alliance / dpa

Artenschutz: Leben im Verborgenen

Jedes Jahr werden tausende neue Arten entdeckt. Zugleich warnen Naturschützer vor dem Aussterben von Tieren und Pflanzen. Wie erklärt sich dieser scheinbare Widerspruch?

Die Spinne Caerostris darwini, die in Madagaskar riesige Netze an 25 Meter langen Fäden verankert, der Blutegel Tyrannobdella rex, der an der Nasenschleimhaut eines peruanischen Mädchens lebte, die Zwei-Meter-Echse Varanus bitatawa, die als Vegetarier auf den Bäumen der Philippinen lebt, die 40 Zentimeter lange Antilope Philantomba walteri in den Regenwäldern Westafrikas oder die Seefledermaus Halieutichthys intermedius, die auf Stummelflossen über den Grund des Golfs von Mexiko hüpft. Das sind nur fünf der vielen Arten, die Biologen im Jahr 2010 entdeckt haben. Jedes Jahr beschreiben Wissenschaftler einige tausend neue Spezies. Gleichzeitig klagen Naturschützer, das Wirtschaften der Menschen rotte viele Arten aus. Was stimmt denn nun: Wächst die Artenvielfalt oder haben wir einen Artenschwund?

„Die Zahl der auf der Erde lebenden Arten nimmt keineswegs zu“, sagt der Geschäftsführer der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF) Christof Schenck. Als neu gilt eine Art ja nur, weil Wissenschaftler sie zum ersten Mal beschrieben haben. Existiert haben die allermeisten dieser neuen Arten dagegen schon seit Jahrmillionen. „Wenn ich in die Bibliothek gehe, dort ein mir neues Buch entdecke und es lese, dann steigt dadurch ja auch nicht die Zahl der Bücher in der Weltliteratur, denn das Werk war natürlich schon längst vorher erschienen.“

Viele der neu entdeckten Arten waren dann auch nur den Forschern neu, nicht aber den Menschen, die nahe des Fundortes leben. Die Antilope Philantomba walteri zum Beispiel wurde gar nicht in der Natur entdeckt, sondern auf den Märkten des westafrikanischen Staates Benin, auf denen das Fleisch verkauft wird. Zumindest seine Jäger kannten diese Antilopenart lange vor der Wissenschaft.

Die Zunahme der Artenvielfalt findet also nur in den Biologiebüchern statt, der Artenschwund dagegen ist der reale Alltag von Naturschützern wie Christof Schenck. „Kaum entdeckt, droht so manche Art schon wieder auszusterben“, sagt er. So hat die ZGF gemeinsam mit dem Deutschen Primatenzentrum in Göttingen im Jahr 2010 über Erbgutanalysen in Kotproben und Vergleiche der Gesänge den Nördlichen Gelbwangen-Schopfgibbon Nomascus annamensis entdeckt. Die Affen leben in Laos und Vietnam. Wie lange die Art überleben wird, ist kaum abzuschätzen. Werden ihre Wälder abgeholzt, verlieren sie ihr Zuhause. Und auf dem Speiseplan mancher Einheimischer tauchen ebenfalls Schopfgibbons auf, die illegal gejagt werden.

Eine ganz andere Gefahr droht der 2010 im Golf von Mexiko entdeckten Seefledermaus Halieutichthys intermedius. Dieser orangefarbene Plattfisch wehrt sich mit Stacheln und Knochenplatten gegen Feinde. Gegen die Ölpest nach der Explosion der Öl-Plattform „Deepwater Horizon“ half dieser Panzer aber kaum. Unmittelbar nach der Entdeckung der Art hüllte eine aus dem ausströmenden Öl entstandene Masse ihr gesamtes Verbreitungsgebiet in 400 Meter Wassertiefe ein. Ob das Tier der Ölpest entkommen konnte, weiß jedoch niemand.

Das Gleiche gilt für viele weitere Organismen, von denen die allermeisten noch gar nicht bekannt sind. Bisher haben Biologen rund 1,2 Millionen Spezies entdeckt – allein in den letzten 20 Jahren sind gut 120 000 neue hinzugekommen. Viele sind aber noch nicht beschrieben. Wie groß dieser Rest ist, haben kürzlich Camilo Mora von der Dalhousie Universität in Halifax und seine Kollegen berechnet. Sie gingen dabei von der Systematik aus, mit der Biologen die Arten auf verschiedenen Ebenen in Gruppen wie „Säugetiere“ oder „Insekten“, „Pflanzen“ oder „Pilze“ einteilen. Diese Systematik zeigt ein festes Muster, aus der sich die Gesamtzahl der Arten in jeder Gruppe recht gut ermitteln lässt, auch wenn nur ein Bruchteil davon tatsächlich bekannt ist.

Insgesamt kamen die Forscher weltweit auf rund 8,7 Millionen Arten. 2,2 Millionen leben im Meer, der Rest an Land, berichten sie in „Plos Biology“. Demnach sind 86 Prozent aller Spezies noch nicht wissenschaftlich beschrieben. Bliebe das „Entdeckertempo“ gleich, dauerte es noch 1200 Jahre, bis alle erfasst sind. Und da die Beschreibung einer Art im Schnitt 48 500 Dollar kostet, würde sich die Gesamtrechnung auf 364 Milliarden Dollar belaufen.

Als Gegenleistung entstünde ein Katalog, in dem rund 8,7 Millionen Arten beschrieben sind. Lohnt sich das? ZGF-Naturschützer Christof Schenck ist davon überzeugt: „Jede Art spielt in der Natur eine einmalige Rolle. Wie wichtig diese für das Gesamtsystem ist, wissen wir aber frühestens dann, wenn wir diese Art auch kennen.“

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