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Die artenreiche Bucht Kolpos Kalloni im Süden der Insel Lesbos wurde zu Aristoteles’ Forschungsbasis.

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Aristoteles als Biologe: Der Philosoph und die Kalamari

Auf Lesbos untersuchte der Philosoph Aristoteles einst die Tierwelt des Mittelmeeres – und begründete so auch die Biologie als eigenständige Wissenschaft.

Zwei Monate vor seinem Tod, im Februar 1882, erhielt Charles Darwin ein Exemplar von Aristoteles’ Buch „De partibus animalium“ (Von den Teilen der Tiere). Absender war sein Freund William Ogle, der das Werk soeben übersetzt hatte. Zum Dank schrieb Darwin: „Ich hatte bereits eine hohe Meinung von Aristoteles’ Verdiensten, aber nicht die geringste Ahnung, was für ein wundervoller Mensch er war. Linné und Cuvier waren – auf sehr unterschiedliche Weise – meine beiden Götter, aber im Vergleich zum alten Aristoteles waren sie doch bloße Schuljungen“.

Dass Darwin „De partibus“ noch auf dem Sterbebett in den Händen gehalten habe, mag man getrost zu den Legenden zählen, die sich um ihn ranken. Als sicher gilt heute allerdings, dass Aristoteles mit diesem und weiteren Werken die Biologie begründete. Er war nicht nur einer der großen Philosophen, sondern auch der erste Biologe. Immerhin die Hälfte der von ihm überlieferten Texte ist naturwissenschaftlichen Themen gewidmet. Sein Hauptinteresse galt dabei der Zoologie. Aristoteles’ „Historia animalium“ ist mehr als doppelt so umfangreich wie seine zweitgrößte Schrift „Politik“ und viermal so seitenstark wie seine „Metaphysik“. Ein umfangreicher „Atlas“ mit anatomischen Zeichnungen und Skizzen, den Aristoteles anlegte, ist leider komplett verloren.

Aristoteles floh vor den Persern nach Lesbos

Zudem ist das, was wir wirklich von ihm wissen, schnell berichtet. Aristoteles wurde im Jahr 384 vor dem Beginn der christlichen Zeitrechnung in Stagira nahe dem heutigen Thessaloniki geboren, wo sein Vater Leibarzt des mazedonischen Königs war. Mit 17 wurde er nach Athen an die von Platon, dem bedeutendsten idealistischen Philosophen der Antike, geleitete Akademie geschickt, wo er zwei Jahrzehnte erst als Schüler, dann als Lehrer blieb. Entweder weil man ihm nach Platons Tod nicht die Leitung der Akademie übertrug oder um für ihn lebensbedrohlichen politischen Auseinandersetzungen zu entgehen (da ist sich die Forschung nicht einig), ging er 348 oder 347 zuerst nach Assos an der Küste Kleinasiens, wo er auch heiratete.

Als die Perser 345 Assos eroberten, floh Aristoteles mit seiner jungen Frau und seinem Schüler Theophrastos (der die Botanik begründete) auf dessen Heimatinsel Lesbos in der östlichen Ägäis. Dort bildet eine lang gestreckte Meeresbucht, Kolpos Kalloni, die die Insel von Süden her tief einschneidet, eine Art Binnenmeer. Dank des Eintrags durch die Flüsse der umgebenden Hügel ist die Bucht ungeheuer nährstoffreich.

Kaum irgendwo im Mittelmeer ist die Meeresfauna vielfältiger und formenreicher als in dieser Lagune von Lesbos. Seeigel, Seescheiden, Seegurken, Seesterne, Schnecken und Schwimmkrabben, Brassen und Barsche, Austern und Anemonen, Tunikaten und Tintenfische inspirierten den Philosophen und lassen die Insel zu Aristoteles’ Galapagos werden.

Er interessierte sich als Erster für den Bauplan von Meereswürmern

Im Exil auf Lesbos begann er damit, die Welt des Lebendigen zu ergründen und zu kartieren. Hier entstanden seine wichtigsten zoologischen Studien und Schriften. Aristoteles interessierte sich als einer der Ersten für den Bauplan von Meereswürmern und Kopffüßern, für den „Vollkommenheitsgrad“ ihres Körperbaus und für die Lebensweise anderer Wirbelloser, für die Funktionsweise von Schneckenmägen, für die Struktur des menschlichen Herzens und Blutkreislaufs, aber auch für die Tanzsprache von Bienen, die Paarung von Reihern und die elterliche Fürsorge von Delphinen.

Aristoteles wollte wissen, wie sich Lebewesen aus dem Ei entwickeln, warum einige länger leben als andere, warum wir sterben. Sein Werkzeug war die Beobachtung und das Sezieren von Tieren, die sinnliche Wahrnehmung wurde für ihn zur Quelle objektiver Erkenntnis. In umfangreichen Werken begründete er zugleich die wissenschaftliche Systematik der Organismen. Der Tierbestand in Aristoteles’ Schriften, dessen Grundstock die Fauna der Ägäis bildet, zählt etwa 580 unterschiedliche Formen. Neben der reichen Küstenfauna verschaffen ihm die Fischer von Lesbos auch zahlreiche Vertreter der Hoch- und Tiefsee.

Zehn Jahre später kehrte Aristoteles nach Athen zurück, gründete eine eigene wissenschaftliche Schule, das Lykeion, die er bis 323 leitete. Erneut musste er ungünstigen politischen Umständen ausweichen, ging auf die Insel Euböa, wo er im Jahr darauf starb. Seine Studien fanden im Altertum keine direkte Fortsetzung. Seine zoologischen Schriften indes blieben dank lateinischer Übersetzungen am Ende des Mittelalters erhalten und gehörten zu den frühesten in Europa gedruckten wissenschaftlichen Texten.

Die aristotelische Tiersystematik

Mit der Renaissance wiederentdeckt, blieb die aristotelische Tiersystematik bis ins 18. Jahrhundert Grundlage für die Klassifikation der Tiere – und damit für das naturkundliche Denken in der Neuzeit.

Aber während die von Aristoteles begründete Biologie groß geworden ist, haben seine Nachkommen ihn so gut wie vergessen. Seinem Werk und Wirken ist lange nur noch spärliche Aufmerksamkeit zuteil geworden. Das ändert sich inzwischen. Unlängst hat der Koblenzer Philosoph Martin F. Meyer seine Habilitationsschrift „Aristoteles und die Geburt der biologischen Wissenschaft“ (Springer Spektrum, Wiesbaden 2015) dem lebenswissenschaftlichen Denken des großen Griechen und seiner Biologie im Kontext der antiken Naturwissenschaften gewidmet. Und dabei zugleich einen epistemischen Sonderstatus der Biologie ausgemacht, als Wissenschaft nicht des Lebens, sondern der Lebewesen.

Immerhin war es bis zu Aristoteles keineswegs selbstverständlich, überhaupt von Lebewesen zu sprechen. Erst bei ihm gewinnen „Tiere“ und „Pflanzen“ als Begriff Format und Kontur. „Es gehört zu den Gründungsakten der Biologie, dass Aristoteles ‚Leben’ nicht länger in bloßer Opposition zu ‚Tod’, sondern in Abhebung zu den unbelebten natürlichen Dingen versteht“, heißt es bei Meyer. Was dieser noch als Fach-Schrift für Wissenschaftstheoretiker formuliert, das macht der in Großbritannien mehrfach für seine Sachbücher ausgezeichnete Armand Marie Leroi jetzt in seinem Buch „Die Lagune oder wie Aristoteles die Naturwissenschaften erfand“ (Theiss Verlag, Darmstadt 2017. 528 Seiten, 38 Euro) auch einem größeren Publikum zugänglich. Leroi, im Hauptberuf Professor für Evolutionäre Entwicklungsbiologie am Imperial College in London, nimmt uns mit zu einer Reise nach Lesbos, an die Ufer jener großen Lagune, an der Aristoteles vor zweitausend Jahren mit der systematischen Erforschung der Natur und des Lebens begann.

Erst jetzt wird die Bedeutung des Philosophen für die Biologie wiederentdeckt

„Von allen Orten in der östlichen Ägäis, an denen Aristoteles gelebt hat, ist Lesbos der bezauberndste. An einem Frühlingsmorgen in einem der Dörfer an der Küste von Kalloni an die Hafenmauer zu gehen, ist so, als sähe man Historia animalium zum Leben erwachen“, schreibt Leroi.

„Die Lagune“ erforscht die Quellen der Biologie, die nicht nur den wichtigsten Teil von Aristoteles’ Werk ausmacht, sondern der er als Erster einen großen Teil seines Lebens widmete. „Er kartierte das Gelände, er erfand diese Wissenschaft“, ist Leroi überzeugt. „Man könnte sogar behaupten, er erfand die Wissenschaft an sich.“

Tatsächlich hat Aristoteles anders als sein Lehrer Platon empirisch gearbeitet; bei ihm galten nicht bloß Worte, sondern Beobachtungen. Er hat durch eigene Untersuchungen zoologische Kenntnisse erworben und anatomische Sachverhalte geklärt. Dagegen kritisierte er an den früheren Denkern, dass sie sich nicht um Fakten gekümmert und keine Überlegungen zu den wahren Ursachen vorgelegt hätten. Während Platons Schüler bis heute frei von den Zwängen empirischer Belege eine Schwäche für das Theoretisieren und mathematische Modellieren haben, wurden die von Aristoteles gelegten Wurzeln der Biologie als empirischer Wissenschaft oft ignoriert.

In „Die Lagune“ macht Leroi die Ideen und Forschungen des großen Gelehrten wieder zugänglich und zeigt anschaulich, dass Aristoteles’ Biologie kein zaghafter Streifzug in ein neues Gebiet war, sondern eine vollständige Wissenschaft. Dieser hat auf Lesbos den Grundstein für jene Biologie gelegt, deren Anspruch inzwischen nicht nur die Autonomie gegenüber Physik und Chemie, sondern auch die einer Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts ist.

Lerois Aristoteles ist dabei eine echte Wiederentdeckung, die Appetit macht – nicht zuletzt auf gegrillten Fisch und Kalamari oder gesalzene Sardinen, die man am besten mit einem Ouzo hinunterspült.

- Der Autor ist Professor für Biodiversität der Tiere und Gründungsdirektor des Centrums für Naturkunde an der Universität Hamburg.

Matthias Glaubrecht

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