zum Hauptinhalt

Archäologie: Pompejis verwunschene Schwester

Das Leben der alten Römer zeigt sich nirgendwo so detailreich wie in den Überresten Herculaneums. Und noch lange ist nicht alles geborgen, was der Vesuv einst verschüttet hat. Doch gleichzeitig verfällt die Stätte.

Die heißen Vulkanströme des Vesuvs schossen mit gewaltigem Druck durch die Straßen Herculaneums, sie pressten sich durch Rohre und Ritzen, an diesem Tag im Jahr 79 nach Christus. Hunderte Stadtbewohner wurden später von Archäologen unter den erkalteten Schichten in den Bootshäusern am Meer gefunden, wohin sie geflohen waren. Sie hatten wahrscheinlich ein Erdbeben erwartet. Aber es kam schlimmer. Herculaneum liegt bis heute fast zu Hälfte unter Gesteinsmassen versteckt – und im Schatten des großen, weltberühmten Pompeji. Es verzeichnet nur etwa ein Zehntel der Besucher.

Dabei liegen die beiden Grabungsstätten am Golf von Neapel nur zwanzig Kilometer entfernt, und Herculaneum steht Pompeji an aufregenden Funden in nichts nach. So sind die erstarrten Gesteinsschichten im Vergleich zum benachbarten Touristen-Magnet Pompeji drei bis vier Mal so dick – ein Glücksfall für die Archäologen. Die Stadt wurde quasi vollständig eingebacken, auch obere Stockwerke sind erhalten und geben heute einen guten Einblick in die antike römische Architektur.

Villen mit Aussicht. Die nach dem Vulkanausbruch erstarrten Gesteinsschichten sind dicker als in der Nachbarstadt: Herculaneum wurde quasi vollständig eingebacken. Für Archäologen ein Glücksfall.
Villen mit Aussicht. Die nach dem Vulkanausbruch erstarrten Gesteinsschichten sind dicker als in der Nachbarstadt: Herculaneum wurde quasi vollständig eingebacken. Für Archäologen ein Glücksfall.

© picture alliance / Ethel Davies/

Während es in Pompeji Asche regnete, ergossen sich über Herculaneum wesentlich heißere 400 bis 500 Grad kochende Lavalawinen, die organisches Material einfach karbonisierten. So tauchen bei Grabungen immer wieder verkohlte Holzmöbel, Lebensmittel von Erbsen über Getreidekörner und sogar Papyri mit etlichen Namen der Stadtbewohner auf. All das sind wichtige Hinweise auf Essgewohnheiten, Lebensumstände und soziale Strukturen der Römer. In Pompeji fehlen solche Zeugnisse weitgehend.

Eines haben beide Orte jedoch gemeinsam: ihren schleichenden Zerfall. Aus Pompeji kommen immer wieder Meldungen über eingestürzte Mauern. Auch in Herculaneum wurden ausgegrabene Häuser für Besucher gesperrt, Dächer sind eingestürzt, Wind und Regen haben kostbare Wandmalereien, Fresken und Marmorböden beschädigt, das Gras wuchert. Der Zustand sei kritisch, urteilt Andrew Wallace-Hadrill, seit 2001 Leiter des „Herculaneum Conservation Project“, in seinem jüngst erschienen Prachtband (erschienen beim Verlag Philipp von Zabern) über die antike Stätte.

Schuldzuweisungen spart sich der britische Forscher. Verschiedene Faktoren spielten eine Rolle: Die Gesetze der Physik, die ewigen Kompromisse, die es zwischen Forschung und Tourismus zu machen gilt, aber auch administrative Probleme des italienischen Staats, der mit der Pflege seines überreichen kulturellen Erbes offensichtlich überfordert ist.

Wasserschäden bedrohen die antiken Fußböden

Dabei sind die Verhältnisse in Herculaneum im Gegensatz zu anderen archäologischen Stätten des Landes sogar recht gut. Vor zwölf Jahren nahm das Herculaneum Conservation Project seine Arbeit auf, ermöglicht durch amerikanische Sponsoren. Es ist ein Zusammenschluss aus regionalen Behörden, dem Forschungszentrums British School at Rome und des Packard Humanities Institutes aus Kalifornien. David W. Packard, Sohn des Gründers des US-amerikanischen Technologieunternehmens Hewlett-Packard und Philanthrop, soll in den vergangenen Jahren 20 Millionen Dollar zugeschossen haben. Das Team in Herculaneum besteht vor allem aus italienischen Wissenschaftlern.

Archäologie ist die Quadratur des Kreises. Bereits Karl von Bourbon, König von Neapel, ließ von 1738 an nach dem antiken und geheimnisvollen Herculaneum graben. Die Bourbonen sind heute als reine Schatzsucher verschrien, weil sie kostbarste Wandmalereien und Mosaike einfach mitgenommen haben und sie erst im königlichen Palast und später im Nationalmuseum von Neapel ausstellten. Heute reißen Forscher diese Schätze nicht mehr aus dem Zusammenhang. Sie müssen jedoch feststellen, dass diese besser erhalten sind, als jene, die in situ, also am Ausgrabungsort unter freiem Himmel präsentiert werden.

Statt auf prestigeträchtige Großprojekte setzt das Herculaneum Conservation Project daher auf die Instandhaltung der einstigen Küstenstadt mit ihren prächtigen Villen, einem großen Theater mit rund 1300 Plätzen und Thermenanlagen. Viele Forschungsarbeiten der letzten Jahre sind für Außenstehende kaum sichtbar und haben vor allem die Infrastruktur der Anlage verbessert. Die Wasserschäden an antiken Fußböden und Wandmalereien sind so erheblich, dass ein Entwässerungssystem dringend benötigt wird, die Fundorte müssen überdacht werden, ohne dass die Aufbauten zu sehr in die antike Architektur eingreifen und Baumaterial zerstören.

Der Brite Wallace-Hadrill schildert in seinem Buch die ganze Ausgrabungsgeschichte Herculaneums, das mythologischen Ursprungs nach von Herkules gegründet wurde und wahrscheinlich auf eine oskische Siedlung aus dem 4. Jahrhundert vor Christus zurückgeht. In Herculaneum sind so viele Details über das Leben der Römer bekannt wie kaum in einer anderen Stadt. Gefunden wurden nicht nur Porträts in Marmor und Bronze, auch Rechtsakten und Archive sind unter den Gesteinsschichten aufgetaucht. Als man auf Granatäpfel stieß, hatte man einen Beleg dafür, dass der 24. August 79 nach Christus als Katastrophentag, festgeschrieben von Plinius dem Jüngeren, wahrscheinlich nicht stimmen kann. Die Reife der Früchte deutet eher auf Oktober oder Anfang November hin.

Der Tod der Hunderten von Opfern muss in Sekundenschnelle eingetreten sein, denn als man sie unter den erkalteten Schichten fand, zeigten sie sich in einer ganz typischen Kauerhaltung, in der Fachsprache „Fechterstellung“ genannt. Durch die enorme, zerstörerische Hitze entsteht bei der Verbrennung Eiweiß im Körper, das zu einer Muskelkontraktion führt und schlussendlich zu dieser gebeugten Position.

Was ein Brotlaib im "Haus der Hirsche" verrät

Eines der berühmtesten Objekte wurde im besonders schön ausgestalteten „Haus der Hirsche“ gehoben, benannt nach den Tierskulpturen, die man dort gefunden hat. Auf einem schwarz verkohlten Brotlaib lässt sich deutlich der Abdruck eines Stempels erkennen, der den Schriftzug „Celeris Q Grani Veri Ser“ trägt, also „Celer, Sklave des Quintus Granius Verus“. Der Herr könnte der Besitzer des „Hauses der Hirsche“ sein. Doch ein vollständiges Rätsel ist immer noch, warum die Bewohner des Küstenstädtchen Brot auf diese Weise kennzeichneten und ob man die Stempel noch für etwas anderes einsetzte.

In Pompeji locken die erotischen Darstellungen, mit denen einige Häuser kunstvoll verziert wurden, die Touristenströme. So etwas fehlt in Herculaneum – genauso wie Hinweise auf hitzige Gladiatorenkämpfe. Offensichtlich war das Leben in dem Städtchen, das nur ein Viertel so groß ist wie Pompeji, beschaulicher und wohl auch kultivierter. Die Ausstattung der Häuser ist dafür aufwendiger und reicher, die Villen sind größer als im Nachbarort. Wallace-Hadrill nennt Herculaneum in seinem mit zahlreichen Bildern ausgestatteten Buch das „Key West der römischen Antike“. Es war offensichtlich ein beliebter Erholungsort für wohlhabende Römer.

Bisher gilt etwa die Hälfte der antiken Stätte als ausgegraben. Vollständig wird sie wohl nie ans Licht der Oberfläche dringen. Denn das würde bedeuten, dass man die neuzeitliche Bebauung der heutigen Stadt Ercolano darüber abreißen müsste. Doch die hat vor allem im Zentrum inzwischen selbst historischen Wert.

Es stellte sich außerdem die dringende Frage, wie solch eine erweiterte Ausgrabungsstätte unterhalten und gepflegt werden sollte, wenn die Instandhaltung der jetzigen Größe bereits schwierig ist. Wallace-Hadrill kommt in seinem umfangreichen Buch zu einem eher pragmatischen Schluss: „Vergrabene Schätze mögen künftigen Generationen vorbehalten bleiben. Für unsere Generation reicht es aus, den außerordentlichen Wert des Schatzes zu würdigen, der bereits ausgegraben wurde, und diesen der Nachwelt zu erhalten.“

Sicherlich hält Herculaneum aber noch die ein oder andere Überraschung bereit. Und wenn sie in einem Getreidekorn steckt.

Andrew Wallace-Hadrill: Herculaneum, Biografie einer Stadt; Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt, 2012; 352 Seiten, 49,99 €

Zur Startseite