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Hurru-Instinkt

© Alexander Stein

Archäologie: In den Wehen hilft der Hurru-Vogel

Rezepte in Keilschrift: Schon vor 3000 Jahren behandelten Beschwörer im Alten Orient Schwangere und Babys.

Der Altphilologe Konrad Volk verblüffte seine medizinischen Universitätskollegen mit einer Testbeschreibung: Kurz nach der Geburt legt der Helfer das Neugeborene so auf seinen ausgestreckten Unterarm, dass er den Kopf in seiner Innenhand hält. Plötzlich lässt er seinen Arm nach unten sinken – das Baby reagiert reflexartig: Es breitet sofort die Arme aus. Und schließt sie, wenn der Kopf in der Hand wieder angehoben wird.

Die heutigen Mediziner kennen diese frühkindliche Untersuchung aus ihren Lehrbüchern zur Kinderheilkunde als Moro-Test: Reagiert das Kind nicht wie beschrieben, hat es eine Gehirnschädigung. Altphilologe Volk von der Universität Tübingen hatte die Beschreibung jedoch nach einem Handbuch für altbabylonische Beschwörer exerziert. Diese „Asipu“ waren im Alten Orient für den magischen Teil von Krankheitsbehandlung zuständig. Blumig wird der Diagnose-Test dort so beschrieben: „Wenn du ein Baby zu beiden Seiten des Nacken ‚hängen’ lässt und es dabei nicht (zusammen)zuckt und seine Arme ausstreckt: ‚Erreichen des Staubes’“ (Umschreibung für: Es wird sterben) – eine präzise medizinische Diagnose, auf einer Keilschrifttafel vor rund 3000 Jahren festgehalten.

In Keilschrift betextete Tontafeln haben die Archäologen bei ihren Grabungen in Mesopotamien, dem Hochkulturland zwischen Tigris und Euphrat, zu Hunderttausenden ausgegraben, bestenfalls die Hälfte davon ist gelesen – und verstanden. Und es kommen ständig neue hinzu. Ohne die Arbeit der Schriftwissenschaftler wüssten wir erheblich weniger über unsere Vorfahren. Die Lebenswirklichkeit der Menschen ist es, die Konrad Volk fasziniert, wenn er sich „durch ganze altorientalische Bibliotheken wühlt“. Volk arbeitet an der ersten Monographie über die Kindheit im Alten Orient.

Nach seinen Funden in medizinischen, magischen, literarischen und juristischen Texten kann Volk ein vielfarbiges Bild vom Kindsein im alten Babylonien und Assyrien für die Zeit vom 4. bis ins 1. Jahrtausend vor Christus entwerfen. Es ergibt sich ein kaleidoskopartiger Blick auf die städtisch-bürgerliche Schicht in Mesopotamien, dem Gebiet des heutigen Irak.

Zweck und Ziel einer Heirat war ohne Wenn und Aber eine reiche Nachkommenschaft. Ein Sohn war wichtig, um die Versorgung und den Ahnenkult sicherzustellen, weibliche Zwillinge oder gar Drillinge verhießen großes Glück. Mit Beschwörungen und magischen Ritualen versuchten babylonische und assyrische Eheleute das Geschlecht des Kindes zu beeinflussen. Der Beischlaf fand am besten am Nachmittag statt, denn nachts waren menschenfeindliche Geister unterwegs. Auch während der Schwangerschaft musste die werdende Mutter sich und ihr Kind vor der „lebenstilgenden“ Dämonin Lamastu mit Amuletten schützen.

Die Menschen in Mesopotamien kannten männliche Zeugungsunfähigkeit und weibliche Unfruchtbarkeit und suchten mit bekannten, aber medizinisch heute nicht mehr auswertbaren Rezepturen nach Auswegen. Man tat viel und Teures, um Unheil während Schwangerschaft und früher Kindheit abzuwehren. Denn das heranwachsende Leben hatte im Alten Orient einen hohen Stellenwert, wie ein Gesetzestext aus Ur um 2000 vor Christus festlegt: „Wenn ein Mann die Tochter eines anderen Mannes geschlagen hat und sie hierdurch eine Fehlgeburt erleidet, muss dieser (Mann) 30 Schekel (Silber) bezahlen.“ Starb die Schwangere gar, wurde der Mann hingerichtet. Bei gewollter Vernichtung von werdendem Leben, also aktiven Abtreibungen, wurde die Frau gepfählt. Dennoch, so Volk, waren Abtreibungen offenbar ein erhebliches gesellschaftliches Problem: „Es waren Hochkulturen, in Teilen sogar Luxusgesellschaften. Da war nicht jeder Nachwuchs willkommen. Und es gab Gebärtabus, etwa für Priesterinnen.“

Folgerichtig findet Volk altorientalische Rezepte für Schwangerschaftsabbrüche. „Wir kennen das Mittel nicht genau, aber es wurde ein Elixier hoch dosiert verwendet, das eigentlich – geringer dosiert – zur Unterstützung der Presswehen gedacht war.“ Die wehenfördernde Medizin wurde nach einem Rezept des 1. Jahrtausends vor Christus aus „Pulverisiertem vom Hurru-Vogel, gekocht mit Kümmel, versetzt mit Fuchswein und Mastakal-Kraut“ zusammengebraut.

War die Schwangerschaft überstanden und das Kind von der Hebamme aus dem Dunkel ins Licht gehoben worden, bekam das Neugeborene nach Durchtrennung der Nabelschnur seinen Namen. Drei Jahre lang wurde es von der Mutter oder einer Amme gestillt. Die Aufgaben der Amme wurden in „Säugelohnverträgen“ bis ins Einzelne festgelegt, so durfte sie zum Beispiel kein zweites Kind an die Brust nehmen. Im tönernen Diagnose-Handbuch eines Beschwörers fand Volk so ziemlich alle Krankheiten, an denen Kinder bis heute leiden: Husten, Fieber, Krämpfe, Durchfall, Verstopfung, Gelbsucht. Die Probleme beim Zahnen kannten die altorientalischen Heiler ebenso wie tödliche Erkrankungen, etwa eine offene Fontanelle oder gar ein offener Rücken. Epilepsie bei Kindern wird in den Keilschrifttexten häufig erwähnt – und meist auf übelwollendes Verhalten von Göttern zurückgeführt.

Königskinder erfreuten sich natürlich besonderer gesundheitlicher Fürsorge, die „Leibärzte“ am Königshof sind namentlich bekannt und gaben ärztliche Bulletins heraus: „Die Prinzessin, die immer wieder Fieberanfälle packten, ist jetzt durch einen Umschlag und Heiltränke zur Ruhe gekommen.“ Vorsichtshalber ließ der Beschwörer in einem anderen Fall allerdings den Heiltrank an Dienern testen, „erst danach soll der Kronprinz trinken“. Aufwendige Therapien wurden festgehalten: „Die Behandlung, die wir an der Brust durchführten und anwandten, dauerte 100 Minuten.“

Den Alltag der jungen Eltern im städtisch-bürgerlichen Milieu prägt vor allem die Sorge, ihr Kind gesund durch die ersten Jahre und Monate zu bringen. Nahm ein Neugeborenes nicht zu oder gar ab, wurde umgehend und intensiv nach Gründen gesucht, oft wurde die Amme beschuldigt, den Säugling falsch zu ernähren. Nach den ersten drei Jahren wurden die Kinder in den medizinischen Listen lapidar als „Abgestillte“ geführt, für die es eigene Diagnose- und Therapievorschriften gab.

„Man hat sich viele Gedanken gemacht, damit das Kind heil in und durch die Welt kommt“, resümiert Volk. „Das Kind war ein Wert an sich.“ Eines aber hat er bis heute nicht verstanden: Aus der Zeit um 1800 vor Christus gibt es so viele Säugelohnverträge wie aus keiner anderen altorientalischen Epoche davor oder danach: Sollten bewusst mehr Kinder geboren werden? Wenn eine Amme das Kind über drei Jahre stillte, erhöhte sich die Empfängnisbereitschaft der Mutter. Oder war das eine Zeit des Luxus, in der die feinen Damen Babylons einem figurbewussten Schönheitsideal frönten und deshalb nicht selber drei Jahre stillen wollten?

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