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Venusdarstellungen in einer Archäologie-Ausstellung.

© Andreas Arnold/picture alliance/dpa

Archäologie: Der Tanz der Frauen von Gönnersdorf

Geheimnisvolle "Venus"-Darstellungen beschäftigen Ur- und Frühhistoriker: Eine Archäologin hat die Figurinen und Zeichnungen jetzt neu interpretiert.

Die Skulptur in der Vitrine ist nur sechs Zentimeter hoch: eine kopflose Frau mit übergroßen Brüsten, prallem Gesäß und detailliert dargestelltem Genitalbereich. Sie wird nach dem Fundort auf der Schwäbischen Alb als „Venus vom Hohle Fels“ bezeichnet und zählt zu den frühesten bekannten altsteinzeitlichen Frauendarstellungen. Sie ist gut 35.000 Jahre alt.

Nur zwei Schritte links von ihr – wobei zwei Schritte in der Archäologie-Ausstellung „Bewegte Zeiten“ im Berliner Martin-Gropius-Bau einen Sprung in der Menschheitsgeschichte von etwa 20.000 Jahren bedeuten – treffen die Museumsbesucher auf völlig anders gestaltete Frauenstatuetten. Hinter Glas liegen vier stabförmig reduzierte, fingerlange Plastiken aus Knochen und Elfenbein. Nur an den Gesäßpartien, den teils gebogenen Rückenlinien und angedeuteten Brüsten dieser abstrakten Kleinskulpturen ist erkennbar, dass es sich hier ebenfalls um Frauen handelt. Dennoch werden auch sie als „Venusfigurinen“ bezeichnet.

Frühe Kunst der Menschheitsgeschichte

Im Vokabular der Archäologen ist der Begriff „Venus“ fest verankert, seit im Jahr 1908 im niederösterreichischen Willendorf eine etwa 30.000 Jahre alte Frauenfigur mit üppigen Formen entdeckt wurde. Ähnliche mollige Typen wie die „Venus von Willendorf“ fand man später auch andernorts: in Tschechien zum Beispiel die einige Tausend Jahre jüngere „Venus von Dolní Vestonice“, eine der ersten Keramiken der Menschheitsgeschichte, oder die bereits erwähnte „Venus vom Hohle Fels“, die ein Team um den Archäologen Nicholas Conard von der Universität Tübingen im Jahr 2008 aus sechs Elfenbeinfragmenten zusammensetzte. Sie ist eines der Prunkstücke der sehenswerten Berliner Archäologie-Schau.

Inzwischen unterscheiden Forscher zwischen Frauenstatuetten im „Willendorf-Stil“ und jenen, die, einem Fundort am Mittelrhein entsprechend, dem „Gönnersdorf-Stil“ zuzurechnen sind. Letzterer ist weniger bekannt, in der Ausstellung im Gropius-Bau sind aber einige in Schiefer eingravierte Frauendarstellungen aus Gönnersdorf, einem Ort zwischen Koblenz und Bonn, vertreten.

Ein Dorf aus der Zeit vor 15.800 Jahren

Wer heute auf der Anhöhe über dem Rhein nach der einstigen Grabungsstelle sucht, wird enttäuscht. In der dicht bebauten Siedlung weist nichts mehr auf die bedeutenden Funde hin, wo ein Bagger vor genau 50 Jahren eine besonders tiefe Baugrube für ein Haus mit Weinkeller aushob. Er musste sich durch eine mächtige Bimsschicht graben. Als in dem darunterliegenden Erdreich eigenartige Schieferplatten und Knochenfragmente zum Vorschein kamen, wurden Archäologen zurate gezogen. Jahrelang suchten sie das Gelände ab, um die Relikte eines eiszeitlichen Siedlungsplatzes ans Licht zu holen. Er war verschüttet worden, als vor 12.900 Jahren in gut zehn Kilometern Entfernung der Laacher-See-Vulkan ausgebrochen war.

In Gönnersdorf war der Bagger in eine Vergangenheit eingedrungen, die weit vor die Eruption zurückreichte. Bereits vor etwa 15.800 Jahren hatten Menschen ihr Quartier hier aufgeschlagen und im Windschatten des Hüllenbergs kleine tipiartige Stangenzelte aufgestellt, wie man sie aus Indianerfilmen kennt, aber auch solidere, jurtenartige Pfostenbauten mit Durchmessern von bis zu acht Metern. Es waren langfristige Unterkünfte. Anhand der Knochen erbeuteter Tiere konnten Wissenschaftler nachweisen, dass die eiszeitlichen Jäger und Sammler neun Monate im Jahr oder mehr an diesem einen Ort lebten. „Da gibt es so gut wie keine zeitlichen Lücken“, sagt die Archäologin Sabine Gaudzinski-Windheuser, Leiterin des Archäologischen Forschungszentrums und Museums für Verhaltensevolution in Monrepos, der ehemaligen Sommerresidenz der Fürsten zu Wied, wenige Kilometer vom Grabungsort entfernt.

500 Frauenbilder und 240 Tierzeichnungen

Gaudzinski-Windheuser räumt zuerst mit der Mär auf, das Leben während der Eiszeit sei ein einziger Überlebenskampf gewesen. Damals habe man erlegte Wildpferde und Rentiere auf dem Rhein nach Gönnersdorf geflößt, um sie dort auseinanderzunehmen. „Das ging wie am Fließband.“ An Nahrung habe kein Mangel geherrscht. Spektakulärer als ausgegrabene Hufe und Knochen aber sind die Schieferplatten. In Gönnersdorf kamen gravierte Schieferplatten mit mehr als 500 Frauenbildern und etwa 240 Tierzeichnungen zum Vorschein, darunter Darstellungen von wollhaarigen Nashörnern und Wölfen, Vögeln und Fischen. Drei dieser Gravierungen sind nun auch im Gropius-Bau zu sehen.

Beim Betrachten einiger Gravierungen meint man, die Hand zu spüren, die sich vor Urzeiten über den Stein bewegte, mal schnell und flüchtig, dann zögernd und mit stärkerem Druck, bereits vorhandene Linien vertiefend. Über 15.800 Jahre hinweg entspannt sich ein Dialog zwischen Künstler und Betrachter. Pferde und Mammute, Schneehühner und Raben sind naturgetreu und lebendig wiedergegeben. Dagegen sind die Frauen nur schematisch ohne Kopf und in Seitenansicht gezeichnet, mit gerader oder gebogener Rückenlinie. Auf einzelnen Platten finden sich bis zu zwanzig Frauen.

Vier Frauen tanzen eine Polonaise

Unter den Gruppenbildern sticht eines besonders hervor, weil die Körper dieser Frauen so schraffiert sind, als hätte jemand ihre Kleidung darstellen wollen. Die vier Frauen sind alle in die gleiche Richtung gewandt. Eine von ihnen trägt in einem Gestell ein kleines Kind auf dem Rücken – eine einzigartige Mutter-Kind-Darstellung der Eiszeitkunst, auch sie ist nun in Berlin ausgestellt.

Sind diese Frauen gemeinsam unterwegs? Nach eingehendem Vergleich der Schieferplatten sind sich Gaudzinski-Windheuser und ihre Kollegen sicher, dass es sich hier um eine Tanzszene handelt. Denn auf jenen Platten, auf denen auch die Arme der Frauen angedeutet sind, sieht man diese stets in derselben Haltung. „Sie sind immer abgewinkelt. Die Frauen tanzen eine Polonaise.“ Als hätte der rheinische Frohsinn hier seinen Ursprung.

Im Profil ähneln die auf Schiefer dargestellten Frauen den am selben Ort gefundenen Figurinen aus Elfenbein, Geweih oder Schiefer. Mehr als ein Dutzend solche Frauenskulpturen hat man in Gönnersdorf ausgegraben. Sie sind nur fünf bis neun Zentimeter groß, die schlanken, stabförmigen Oberkörper typisch für die Epoche. Kopflose Venusfigurinen dieser Art hat man auch auf der gegenüberliegenden Rheinseite in Andernach gefunden. Und nicht nur dort.

Zur selben Zeit, als Amerika besiedelt wurde, brachen im dünn besiedelten Europa Menschen in neue Territorien auf. Gönnersdorf scheint ein Treffpunkt für diejenigen gewesen zu sein, die große Strecken zurücklegten. Der hier bearbeitete Feuerstein kam aus weit auseinanderliegenden Regionen. Man hat Walknochen am Siedlungsplatz freigelegt, Schmuckschnecken vom Atlantik, Gravierungen von Robben.

Ähnlich reduzierte Figuren in Spanien, Frankreich, Polen

Zusammen mit den eiszeitlichen Jägern und Sammlern zogen ihre Kulturtechniken von Ort zu Ort. So entstand ein Kommunikationsraum, in dem sich eine gemeinsame Bildsprache entwickelte, die einen erstaunlich hohen Grad an Abstraktion aufweist. Ähnlich reduzierte Venusfigurinen wie in Gönnersdorf haben Archäologen in Nordspanien und Frankreich, in Nebra, Oelknitz und in Polen gefunden, nicht in Höhlenheiligtümern, sondern mitten im Siedlungsalltag. „Es sind Symbole, die identitätsstiftend gewirkt haben müssen und für den Zusammenhalt der Gruppe wichtig waren“, sagt Gaudzinski-Windheuser.

Venus von Oelknitz aus Thüringen.
Reduzierte Formen auch bei der Venus von Oelknitz aus Thüringen.

© TDLA/H. Arnold

Der Gönnersdorf-Stil unterscheidet sich stark vom „Willendorf-Stil“ der vorangegangenen Epoche. Die „Venus vom Hohle Fels“ und ihre drallen Schwestern werden oft in einen erotischen Kontext gestellt. Forscher wie Nicholas Conard bringen ihre ausdrucksstarken Formen mit Fruchtbarkeit und Schwangerschaft in Verbindung. Gaudzinski-Windheuser dagegen hebt hervor, dass sich etliche Frauenskulpturen aus jener Epoche durch individuelle Kleidung und Frisuren auszeichnen, ob Bubikopf oder Dutt, Nackenknoten, Pferdeschwanz oder Zöpfe. Könnte es sich um Individuen gehandelt haben, die eine besondere Rolle in der Gesellschaft spielten? Entsprachen die molligen Frauenfiguren schlicht dem Schönheitsideal der Zeit? Wandelte sich dieses im Laufe des Paläolithikums in ähnlicher Weise wie vom Barock zur Moderne?

Die Lust unserer Vorfahren, sich zu schmücken und zu tanzen

Es ist verführerisch, unsere Vorstellungen von Schönheit und Sexualität, Familie oder geschlechterspezifischer Arbeitsteilung auf die Steinzeit zurückzuprojizieren. Die Funde von Gönnersdorf sprechen zwar von der Lust unserer Urahnen, ihre Zelte rot zu bemalen, ihre Körper zu schmücken und zu tanzen. Sie bergen aber weder Hinweise auf Paarbeziehungen oder Kleinfamilien noch verraten sie, ob Frauen mit zur Jagd gingen.

Waren sie es, die Pferde zeichneten und die Tanzszenen in Schieferplatten ritzten? Die gesellschaftlichen Hintergründe, vor denen die eiszeitlichen Frauenfiguren verständlich werden könnten, liegen im Dunkeln. Einstweilen muss offenbleiben, welcher kulturelle Entwicklungssprung zu der abstrakten Darstellungsweise von Gönnersdorf führte.

Die Ausstellung "Bewegte Zeiten - Archäologie in Deutschland" im Berliner Martin Gropius-Bau ist noch bis zum 6. Januar 2019 zu sehen (Informationen finden Sie hier).

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